Nach der vielfachen, positiven Resonanz auf den Fachtag des letzten Jahres hatte unser Kollege Ralf Werner (Nienburg), der mit einer Teilabordnung an der Leibniz School of Education (zugleich Kompetenzzentrum Hannover) tätig ist, frühzeitig die Weichen für eine Neuauflage im Jahr 2023 gestellt. Dazu hatte er erneut NGLV und NLQ als Mitorganisatoren und Kooperationspartner ins Boot geholt. So stand ein Etat zur Verfügung, der es wiederum erlaubte, die zweitägige Tagung kostenfrei für die Teilnehmer anzubieten. Der Donnerstagnachmittag blieb den beiden Hauptvorträgen vorbehalten, während der didaktisch ausgerichtete Vortrag am Freitag von zwei Workshopbändern eingerahmt wurde. Das rege Interesse der Kollegen, von denen sich schnell 150 aus ganz Niedersachsen anmeldeten, zeigt, dass das Angebot gern angenommen wurde.
Mit seinem Vortrag „Die Russische Revolution von 1917. Deutungen und Kontroversen“ eröffnete der Göttinger Osteuropa-Historiker Professor Dr. Manfred Hildermeier, Verfasser zahlreicher einschlägiger Publikationen, darunter zweier monumentaler Monographien zur russisch-sowjetischen Geschichte, den Reigen der Angebote.
Die Russische Revolution von 1917 sei unbestreitbar eine der großen Revolutionen. Ihr Pioniercharakter sei nur mit der Französischen, nicht aber mit der amerikanischen, deutschen oder chinesischen vergleichbar. An ihre internationale Prägekraft könne allenfalls die länderübergreifende Revolution von 1848 heranreichen. Entsprechend sahen sich die Revolutionäre des Jahres 1917 auch in der Nachfolge und Fortsetzung der Franzosen. Aber nur die Februarrevolution sei eine „übliche“ Revolution im Sinne eines Massenaufstandes gewesen, der den Sturz eines Ancien Régimes bewirkt habe. Die Freiheiten, die im Februar gewonnen worden seien, seien dann auch die Grundlage für die Aktivitäten der Bolschewiki geworden. Deren Sieg sei ohne die Februarrevolution nicht denkbar und es komme darauf an, die Geschichte der Russischen Revolution nicht nur aus altsowjetischer Perspektive zu lesen, indem man sich auf das konzentriere, was als Ergebnis des roten Oktober entstanden sei.
Für Hildermeier erstreckt sich das engere Revolutionsgeschehen bis 1921, denn der russische Bürgerkrieg erfülle ebenfalls das Kriterium einer Revolution: Die neue Ordnung wurde in diesen Jahren etabliert, die alten Eliten liquidiert, sodass es – anders als im Frankreich der Jahre 1789 bis 1815 – keinerlei personale Kontinuität zwischen den Epochen gegeben habe: Es gab in Russland keinen Talleyrand. Die administrative und ökonomische Verfassung änderte sich grundlegend, sodass hier insgesamt eine besonders tiefe Zäsur festgestellt werden kann.
Bei der Deutung der Revolution unterschied Hildermeier mehrere Erklärungsmuster. Das Selbstverständnis der Verlierer des Jahres 1917, also der Liberalen, würdigt die gesellschaftlichen Fortschritte Russlands und sieht es nach 1905 auf gutem Weg, da wichtige Modernisierungsparadigmata nunmehr deutliche Fortschritte aufwiesen. Eine Ausnahme bildete die Autokratie, die aber langfristig ihren Widerstand gegen das Parlament hätte aufgeben müssen.
Eine stärker sozialgeschichtlich unterfütterte Deutung erkennt eine schwere Strukturkrise in der autokratischen Gesellschaft. Aus der Industrialisierung und den Großen Reformen der 1860er Jahre sei der Impuls zur Massenimmigration in die Städte erfolgt. Insgesamt sei es zu einer gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsbewegung aller Schichten gekommen: in der Arbeiterklasse mit den charakteristischen Verelendungsphänomenen in den Städten, in der akademisch gebildeten Intelligenz, aber auch in der Unternehmerschaft. Die Autokratie habe ihre Herrschaft indes vor allem auf das Land gestützt, wo der Zar von den Bauern üblicherweise in naiver Weise verehrt wurde. Aus diesem Grunde habe sich die Autokratie geweigert, von den Veränderungen Kenntnis zu nehmen. Dies habe Russland schließlich zerreißen lassen.
Seit etwa 2000 habe nun diese zweite Deutung in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zugunsten der optimistischeren ersteren an Boden verloren: So habe sich die Revolutionsforschung etwa vom negativen Urteil Max Webers über die „Grundgesetze“ des Jahres 1906 gelöst, die er als „Scheinkonstitutionalismus“ geißelte. Neuere Ansätze erkennen hier Parallelen zur Verfassung des deutschen Kaiserreichs. Insgesamt beurteilt man das Revolutionsgeschehen zwischen 1905 und dem Oktober 1917 heute insofern viel positiver. Dieser optimistische Blick der russischen Forschung, so Hildermeier, rühre auch daher, dass die Perspektive der Regionen durch die Nutzung der lokalen Archive stärker in die Forschung eingeflossen sei und ein erstaunliches, von der Intelligenz getragenes politisches Leben im Umfeld der Zemstva und Stadtdumas zutage gefördert habe. Die Intelligenz vor Ort habe die durch die Reformen gewährten Rechte engagiert wahrgenommen. Hätte die hier entstehende Zivilgesellschaft Zeit gehabt, von unten nach oben zu wachsen, wäre es wohl nicht zum Oktobercoup der Bolschewiki gekommen.
Nach der Darstellung der drei Gesamtdeutungen des Revolutionsgeschehens wandte sich Hildermeier der kontroversen Vorstellung einiger Schlüsselereignisse des Jahres 1917 zu. In einer Note vom 18. April 1917 ließ der liberale Außenminister Miljukow verlauten, dass es keinen Separatfrieden mit dem Deutschen Reich geben dürfe. Nachdem er sich zuvor noch für einen Frieden ohne Annexionen ausgesprochen hatte, nahm die Öffentlichkeit dies als Kehrtwende wahr. Die Provisorische Regierung konnte die Wogen nur glätten, indem sie Menschewiki und Sozialrevolutionäre ins Kabinett aufnahm. Es ist daher die Frage diskutiert worden, ob Miljukows Aktion ein Fehler war. Einerseits tat die Provisorische Regierung gut daran, an der Seite der Alliierten zu bleiben. Innenpolitisch trug die Note aber dazu bei, dass sich Provisorische Regierung und der Petrograder Sowjet einander entfremdeten. Miljukow hätte seine Note daher besser nicht öffentlich kommuniziert. Die Liberalen übersahen hier, dass sie die Zustimmung der Massen benötigten. Daher handelte es sich in der Tat um einen kapitalen Fehler.
Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Radikalisierung der Revolution war die Kerenski-Offensive vom Juli 1917. Militärisch brach sie schnell zusammen und führte umgehend zur Selbstdemobilisierung der Armee, denn die Soldaten zog es nach Hause, um bei der sich inzwischen vollziehenden Agrarrevolution, der Enteignung der Großgrundbesitzer, nicht leer auszugehen. Die Wiedereinführung der Todesstrafe durch die Provisorische Regierung am 12.7. goss weiteres Öl ins Feuer, sodass sich nun auch die Kleinbürger in St. Petersburg mit den Arbeitern solidarisierten. Im August errangen die Bolschewiki erstmals die Mehrheit im Petrograder Sowjet. Es stellt sich die Frage, warum die Liberalen so wenig unternahmen, um ihre liberale Revolution zu verteidigen. Der Grund dafür dürfte im nationalen Selbstverständnis ihrer Politik liegen: Als sich Nationalitäten aus dem Reich zu verabschieden begannen (Ukraine, Finnland), verließen sie die Regierung, weil sie die Abspaltungen nicht akzeptieren wollten.
Als die Truppen des konservativen Generals Kornilov Ende August 1917 auf Petrograd zumarschierten, musste Ministerpräsident Kerenski schließlich den Petrograder Sowjet bitten, die Stadt zu verteidigen. Dafür musste er die bolschewistische Partei wieder zulassen und konnte sich nur dank der Roten Garden im Amt behaupten.
Umstritten ist weiterhin der Anteil Lenins am Erfolg der Bolschewiki. Für konservative Historiker gilt er als Dämon der Ereignisse. Sozialhistoriker betonen dagegen eher den weltanschaulichen Konflikt und akzentuieren das Gewicht der Gegebenheiten für die Gesamtinterpretation. Tatsächlich verschlechterte sich die materielle Lage der entscheidenden Gruppen, Arbeiter, Soldaten und Kleinbürger, rasant. Die Schuld schob man der Provisorischen Regierung zu. So machte die Verelendung den Putsch möglich. Ein kulturwissenschaftlicher Blick auf das Geschehen, der die Rolle des handelnden Subjekts akzentuiert, betont gleichwohl die Rolle Lenins: Er übernahm sofort nach seiner Rückkehr aus dem Exil die Führung der bolschewistischen Bewegung, vollzog in den Aprilthesen eine taktische Kehrtwende. Seine Briefe aus dem finnischen Exil atmen eine atemberaubende Selbstgewissheit und unerhörte Radikalität: Die Macht liege auf der Straße, sie müsse nur aufgelesen werden. Dazu war er bereit, vorübergehend eine Koalition mit linken Sozialrevolutionären zu schließen. Der Separatfrieden, den die Bolschewiki Anfang März 1918 mit dem Deutschen Reich schlossen, entsprach den Erwartungen der Masse. Lenins Handeln zeichnete sich durch ideologische Unbeirrbarkeit bei taktischer Flexibilität aus.
Die zweite entscheidende Ursache für das Scheitern der Februarrevolution war der liberale Attentismus in der Agrarfrage. 80% der Bevölkerung lebten nach wie vor auf dem Land, die meisten davon in Armut. Wanderarbeit war verbreitet. Ihnen stand eine kleine Elite von Großgrundbesitzern gegenüber. Die Liberalen ließen diese Zustände unberührt, weil sie getreu ihrer konstitutionalistischen Positionen den Beschlüssen eines gewählten Parlaments nicht vorgreifen wollten. (Daher bezeichnete sich die Regierung auch als provisorisch.) Auch in der Agrarfrage kam sie nicht über vorbereitende Komitees hinaus, die aber wenig zustande brachten. Ab September nahmen sich die Bauern das Land daher mit Gewalt. Das erkannte die Provisorische Regierung nicht an und trieb die Bauern so faktisch an die Seite der Bolschewiki. Lenin schuf dann mit seinem zweiten Dekret vom 26.10.1917 Tatsachen, indem er den Bauern den dauerhaften Besitz des angeeigneten Landes zusprach. Damit übernahm er zugleich eine langjährige Forderung der Sozialrevolutionäre. Die Bauern schieden aus der Revolution aus, zur Verteidigung der Provisorischen Regierung regte sich von ihrer Seite keine Hand. Deren Nicht-Entscheidung in der Agrarfrage war fatal, die Zeit lief ihnen davon.
Der sich an den Oktober 1917 anschließende Bürgerkrieg hat in der Forschung eher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Die Bolschewiki verfolgten ihre Feinde umgehend mit Gewalt, insbesondere die Liberalen. Die Gegner des Oktoberputsches sammelten sich im Süden Russlands. Wahlen zur Konstituierenden Versammlung fanden statt, aber diese wurde bei ihrem ersten Zusammentreffen am 5.1.1918 einfach ausgesperrt. Zumeist heißt es hier, sie habe kaum Verteidiger gefunden. Es gab aber womöglich größeren Widerstand, als bisher bekannt ist. Auf dem Dorf hob sich aber keine Hand für die Sozialrevolutionäre. Hier ging Lenins Kalkül voll auf.
Indes blieben die Bauern nicht lange friedfertig und führten einen Partisanenkrieg, als die Bolschewiki im Rahmen des Kriegskommunismus selbst das Saatgetreide requirierten. Dieser Widerstand kam auch in den bauernfreundlichen Jahren der NEP nicht zum Erliegen. Umso größere Bedeutung kam dem Geheimdienst, der Tscheka, zu. Mit Stalin begann dann eine neue Epoche. Lenins Politik war gleichwohl viel repressiver, als oft gedacht. Er schuf unmittelbar nach dem Oktoberputsch die Grundlage für das, was Stalin dann fortsetzte.
Hildermeier schloss seine Ausführungen mit einem kritischen Kommentar zu fehlerhaften Darstellungstexten in Lehrwerken. Der 23. Februar alten Stils war der 8. März neuen Stils. Auf ihn geht der Internationale Frauentag zurück, denn die Proteste des 23.2. waren eine klassische food riot, die von Frauen in St. Petersburg, ausging. Keineswegs war das Bürgertum Träger dieser initialen Handlung. Daher hätten wenige Regimenter ausgereicht, um sie zu beenden – allein, solche fanden sich nicht. Sozialrevolutionäre gehörten nicht dem Progressiven Block an, da die Liberalen sie als viel gefährlicher erachteten als die kleine Schar der Bolschewiki. Schließlich sei das Winterpalais nie erstürmt worden – eine Hintertür habe offen gestanden.
Hildermeiers Überblick über zentrale Themen der Russischen Revolution und ihrer Forschungsgeschichte lieferte den Zuhörern ein belastbares Fundament für die weiteren Angebote der Tagung. Auf die erinnerungskulturelle, spätetens im vierten Semester („Mythos Oktoberrevolution“) gefragte Dimension des Themas zielte der Vortrag von Dr. Katja Makhotina (Bonn) ab, wenn Sie über „Die Russische Revolution: Geschichte und Erinnerung“ sprach.
Ihre Ausführungen ließ sie mit einem aktuellen russischen Geschichtsbuch der 10. Klasse beginnen. Darin wird Stolypin, der konservative Reformer der Jahre nach 1905 zitiert: „Sie [die Revolutionäre] wollen große Erschütterungen – wir wollen ein großes Russland.“ Damit sei die Haltung des Putin-Regimes zur Oktoberrevolution vorgezeichnet: Gilt die Februarrevolution als Volksaufstand, so wird die Oktoberrevolution als Putsch negativ bewertet. Lenins Allmacht wird konzediert, aber mit negativem Vorzeichen versehen. Die Russische Revolution spielt entsprechend in der russischen Erinnerungspolitik der Gegenwart nur eine Nebenrolle und wurde spät zum Gegenstand der offiziellen Geschichtspolitik. Denn Putin gehe es um die Suggestion nationaler Versöhnung. Entsprechend sei 2021 auf der Krim ein Denkmal eingeweiht worden, das einen Rotarmisten und einen weißen Offizier zeige. Auch der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution sei nicht als solcher gefeiert worden. Am 7. November 2017 habe man auf dem Roten Platz den Tag des militärischen Ruhms gefeiert und an den 76. Jahrestag der Militärparade zu Ehren der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1941 erinnert, nicht aber an diese selbst. Die Erinnerungen an diesem Tag wurden also ausgetauscht.
Heute gehe es der russischen Regierung darum, die Oktoberrevolution als Schreckensszenario im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern. Entsprechend würden Eintracht verordnet und Versöhnung als nationale Aufgabe ausgerufen. Gegner dieser nationalen Sammlung würden entweder als Verräter oder ausländische Agenten stigmatisiert. Nach der Maidanrevolution 2014 in Kiev habe sich dieser Trend noch verstärkt. So werde Alexej Nawalny wahlweise als Verräter oder deutscher Spion angesehen. Der Zugriff auf die russische Geschichte erfolge nun selektiv und beschränke sich auf siegreiche Schlachten und Kriegsführer. Im Zentrum stehe der Große Vaterländische Krieg. Diese Erinnerung werde auch von der Gesellschaft mitgetragen.
Die zentrale Bedeutung der Oktoberrevolution für die sowjetische Erinnerung sei bereits in der Perestroika-Zeit 1986-89 an ihr Ende gelangt. Spätestens seit der Jelzin-Ära sei der Gründungsmythos negativ gewertet worden als Umsturz, Putsch oder Tragödie. Damit sei immer die Angst vor dem „dunklen Volk“ verbunden gewesen. Entsprechend sei auch der 7. November umgewidmet worden. 1995 habe man den Tag des Gedenkens an die Befreiung Moskaus von polnischen Angreifern 1612 gefeiert, 1996 einen Tag der Eintracht und Versöhnung in Erinnerung an ausländische Intervention. Indes konnte der Februar 1917 niemals aus dem Schatten des Oktober heraustreten und seine Rolle übernehmen. Eher schon bezog man sich auf die Romanow-Dynastie oder die Weiße Armee. Petrograd 1917 steht insgesamt für staatliche Desintegration und Schwäche, die das sinn- und gnadenlose Aufbegehren des Volkes ermöglicht hätten.
Mit der Desintegration der russischen Gesellschaft im Rahmen der Transformationskrise der Neunzigerjahre habe sich dann schnell auch eine Sowjetnostalgie breitgemacht, von der zunächst die Kommunisten profitierten. Mit Putin wurde Geschichte dann zu einer wichtigen Ressource der Selbstlegitimierung. Der Zyklus von Revolution und Konterrevolution wurde für beendet erklärt; Revolution als politische Praxis werde seither immer mit negativer Bedeutung belegt. Wenn das Sowjetische unter Putin dennoch wieder in die 1000-jährige russische Geschichte reintegriert werde, so geschehe das losgelöst von der sozialistischen Komponente. 2004 habe man am 7.11. die „Einheit des Volkes“ gefeiert. Man gehe nun in die Breite, suche nach vielfältigen Anschlussmöglichkeiten. Innerhalb dieses Ansatzes stünden die Bolschewiski für eine Art Dolchstoßlegende.
Bis 2012 sollte die russische Geschichtspolitik Putins Macht sichern und die gespaltene Gesellschaft konsolidieren. Seit 2012 habe sie eine konservative Wende vollzogen, die sich mit einer Absage an Diversität verbinde und, begleitet von archaischer Rhetorik, klar antimodernistisch sei. Verbal befinde man sich im Zeitalter der Konterrevolution.
Anschließend stellte Makhotina drei aktuelle konkurrierende Interpretationen der Oktoberrevolution einander gegenüber.
Die national-konservative Interpretation geht vom Wert der Größe und Stärke des russischen Staates aus. Für sie sind die beiden Revolutionen des Jahres 1917 ausschließlich negativ besetzt. Das Jahr 1917 sei eine nationale Schande, der Marxismus und Leninismus seien wesensfremde Ideologien – der Liberalismus aber auch. Die Februarrevolution ordne man unter die Reihe der Palastrevolten ein, während die Oktoberrevolution die Herrschaft des Teufels beginnen und Russland aufgrund des Versagens der liberalen Bürokratie enden ließ. So sah noch Alexander Solschenizyn 2007 die Februarrevolution als die eigentliche Katastrophe an, der der schwache Zar keinen Widerstand geleistet habe. Der Verlust des Imperiums wird als tragisch empfunden, der Friede von Brest-Litowsk als Zeitbombe für den russischen Staat beschrieben. Lenins Nationalitätenpolitik sei verfehlt gewesen. Viel positiver wird demgegenüber die Herrschaft Stalins gesehen, der den Krieg gewonnen, das Imperium wieder hergestellt habe und zu patriotischen/russischen Werten zurückgekehrt sei. Für politische Eliten habe die nationalkonservative Position einen hohen Funktionalisierungswert, um liberalen Positionen entgegenzutreten.
Die kommunistische Interpretation sei weiterhin teleologisch aufgebaut. Hier hat die Oktoberrevolution ihren entscheidenden Platz behalten und wird von den Vorgängen des Februar 1917 abgegrenzt. Die Maidanrevolution 2014 gilt ihr als das Werk amerikanischer Agenten, dem Nationalkonservatismus wirft sie Sehnsucht nach der Vergangenheit vor.
Das liberale Modell, wie es etwa die Jabloko-Partei vertritt, akzentuiert die Februarrevolution als folgerichtige Reaktion auf Fehlentwicklungen des Imperiums. Sie war der Versuch der Eliten, Russland aus dem Elend herauszuführen. Der Oktoberputsch hingegen gilt als Beginn einer verbrecherischen Entwicklung. Was 1917 als Wirken des „dunklen Volkes“ angesehen worden sei, führen die Liberalen heute auf das Handeln der Bolschewiki zurück. Zugleich betont diese Position die Kontinuität von Lenin zu Stalin.
Gemeinsam sei allen Modellen ihr Bezug auf aktuelle politische Kontexte sowie die Identifikation mit einzelnen Akteuren. Andere Themen, z. B. Trotzki, würden ausgelassen. Ein starker Fokus liege auf Lenin und seinem Handeln. Die nationalkonservative Position erhalte heutzutage die größte öffentliche Resonanz.
In der heutigen gesellschaftlichen Erinnerung an die Revolution seien Stalin und Breschnew – ablesbar an der Zahl erschienener Veröffentlichungen – populär. Stalin sei der Held populistischer Bewegungen. Stalindenkmäler würden aus der Gesellschaft heraus angeregt. Er gelte als Vater des Vaterlandes. Lenin hingegen genieße ebenso wie Gorbatschow und Jelzin wenig Ansehen. Die Sowjetnostalgie sei ausgeprägt. Hinter ihr verberge sich die Sehnsucht nach einer siegreichen oder zumindest stabilen Zeit. Eine linke Bewegung in Russland fehle komplett. Andererseits äußere sich aber auch Unbehagen, wenn Lenin-Denkmäler gestürzt werden. Die orthodoxe Kirche schließe sich der negativen Deutung Lenins an, habe den letzten Zaren heiliggesprochen und den Teufel in Gestalt des NKWD neu erfunden.
Prägnantes Merkmal der gegenwärtigen Geschichtskultur sei das Fehlen einer Opfererinnerung. So werde an der Gedenkstätte Kowaljowo bei St. Petersburg, wo ca. 5.000 Menschen des Roten Terrors begraben liegen, unter anderem die Kronstädter Matrosen, zwar der Kult eines neuen religiösen Märtyrertums betrieben, es fänden sich aber keine erläuternden Informationen zu den politischen Morden. Die Organisation Memorial, die den Friedhof 2001 entdeckte, sei 2021 vom Staat liquidiert worden. Die traumatisierte poststalinistische Gesellschaft habe niemals erzählt – und nun sei niemand mehr da, um zu erzählen.
Insgesamt liege Russland im globalen Trend: Die Werte der Sozialdemokratie seien gegenüber denen des rechten Populismus auf dem Rückzug. Stabilität gelte als höchste Errungenschaft der Zeit. Seit 2014 müsste die Geschichtspolitik ferner die expandierende imperiale Politik begründen. Putins Imperialismus komme aber in der russischen Gesellschaft nicht gut an. Besser gelinge dies über das Versprechen guten Lebens. So werde den in der Ukraine kämpfenden Soldaten ein sozialer Aufstieg durch hohe Soldzahlungen versprochen.
Der erste Tag endete mit der Vorführung von Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, der Jan Storre, Fachberater aus Lüneburg, eine kleine Einführung voranstellte.
Das Programm des Freitags wurde dominiert von zwei Workshop-Bändern, die vor allem von Kolleginnen und Kollegen gestaltet wurden. Dabei ging es im Wesentlichen um konkrete Unterrichtsvorschläge. Die Materialien dieser Workshops sind inzwischen auf einer Seite der LSE Hannover versammelt und online gestellt worden. Sie finden sie HIER.
Dazwischen kommentierte, wie schon im Vorjahr, der Hannoveraner Geschichtsdidaktiker Professor Dr. Meik Zülsdorf-Kersting das neue Semesterthema aus seiner Sicht. Thematisch erkannte er neben der enormen inhaltlichen Fülle des Themas, das allein zeitlich fast 100 Jahre umfasse, das große, kaum lösbare Problem, dass die aktuellen, aus dem Ukrainekrieg entspringenden Fragestellungen nur schwer mit den Intentionen und Schwerpunktsetzungen des Kerncurriculums vereinbar seien. Russlands Angriffskrieg sei der Elefant im Raum; die Auseinandersetzung mit dem präzedenzlosen Völkerrechtsverbrechen, so seine These, sei unumgänglich. Wenn hier die Potenziale des Geschichtsunterrichts nicht genutzt würden, stelle man dessen Relevanz und Daseinsberechtigung in Frage. Daher sei das Thema eine schwierige Herausforderung.
Im Folgenden skizzierte Zülsdorf-Kersting Putins traditionale russische Geschichtserzählung, die dem westlichen Zeitenwende-Narrativ komplett entgegengesetzt sei. Sie handele vom Aufstieg Russlands zur imperialen Großmacht. Dem mit der Kiever Rus beginnenden, über Peter den Großen, Katharina II. und den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg führenden Aufstieg Russlands stellt sie die Zerstörung des Imperiums durch die Gewährung nationaler Selbstbestimmungsrechte, einerseits durch die Bolschewiki nach 1917, andererseits beim Untergang der Sowjetunion 1991, gegenüber. Diese vermeintlichen Fehler zu korrigieren sei Putins Ziel. Das Narrativ legitimiere die gewaltsame Wiederherstellung des Imperiums, also auch des gegenwärtigen Angriffskrieges. Putin geriere sich hier offen als Schulhofschläger.
Ausgehend von diesem Befund steuerte Zülsdorf-Kersting dann den Begriff der historischen Sinnbildung in seinen Facetten an und verwies auf die Bedeutung geschichtskultureller Kompetenz. Dass das niedersächsische Kerncurriculum die narrative Kompetenz als oberstes Ziel ausweise, begrüßte er ausdrücklich, sah dieses Ziel in den Prüfungsaufgaben des niedersächsischen Zentralabiturs aber nicht erreicht. (Hier wiederholte er einen Vorwurf, den er bereits im Vorjahr beim Thema Weimar erhoben hatte.) Speziell vermisste er den in den EPA (unter 3.2.4) ausgewiesenen Aufgabentypus einer Darstellung historischer Sachverhalte in Form einer Argumentation. Gerade sie sei angesichts der politischen Aktualität von besonderer Bedeutung und geschichtskulturell zentral. Wiederum regte er an, die Prüfungsaufgaben auf diese gegenwartsbezogene Königsdisziplin hin auszurichten, um die narrative Kompetenz auch praktisch wirksam werden zu lassen.
Wie schon im Vorjahr war der Hannoveraner Fachtag eine herausragende Fortbildung: hinsichtlich ihres zweitägigen Formats, der Qualität der Referenten, der Verschränkung von Grundlagen und Unterrichtspraxis – und nicht zuletzt angesichts eines in Lehrerkreisen ungewohnt opulenten Caterings. Im Lichthof des Hauptgebäudes der Leibniz-Universität konnte man seine Zeit gewinnbringend zubringen. Hoffentlich noch oft – der NGLV ist gern wieder dabei.
Die Materialien der Workshops sind inzwischen eingesammelt und im Internet bereitgestellt worden. Die Übersicht finden Sie HIER.
Johannes Heinßen
Das Programm der Tagung finden Sie HIER.