Am gewohnten Ort, im Historischen Museum Hannover, fanden sich am 5.11.2009 rund 120 Geschichtslehrerinnen und –lehrer zum Tag des niedersächsischen Geschichtslehrers ein. Museumsdirektor Dr. Schwark würdigte in seiner Begrüßung die inzwischen bereits sieben Jahre andauernde Tradition der Zusammenarbeit zwischen Verband und Museum. Er verband dies mit dem Hinweis auf zwei Ausstellungsprojekte des Historischen Museums: zum einen die Ausstellung Fremd im eigenen Land. Sinti und Roma in Niedersachsen nach dem Holocaust (24.10.-31.1.2010), zum anderen Was damals Recht war … Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (9.12.2009 – 28.2.2010).
(http://www.hannover.de/hist_museum/)
Dr. Martin Stupperich, der erste Vorsitzende des NGLV, dankte Dr. Schwark für die für beide Seiten vorteilhafte Kooperation. Er wies außerdem auf die Umbenennung des Verbandes sowie die Einführung eines neuen Logos hin.
Den ersten Vortrag des Vormittags hielt der Osteuropa-Historiker PD Dr. Lutz Häfner (Göttingen). Er widmete sich dem thematischen Schwerpunkt 2 des Zentralabiturs 2011 Die Sowjetunion – Genese einer Weltmacht. Ausgehend von einer Kritik an der inhaltlichen Fülle der Vorgaben, die Stoff für zwei Vorlesungssemester böten, gab er einen Überblick über ausgewählte Kapitel der russischen/sowjetischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Die entscheidende Zäsur auf dem Weg Russlands ins 20. Jahrhundert erkannte Häfner im Krimkrieg (1854-56). Dieser habe die Nachkriegsordnung der napoleonischen Kriege zum Einsturz gebracht; Russland, ein „Koloss auf tönernen Füßen“, sei fortan nicht mehr Ordnungsmacht in Europa gewesen und habe für sich die Notwendigkeit einer nachholenden Modernisierung erkannt.
Die Revolution von 1905, nach Lenin die „Generalprobe“ der Oktoberrevolution, war eingebunden in den säkularen Transformationsprozess nach dem Krimkrieg. Ihre Träger, die städtischen bürgerlichen Kreise, hätten der ländlichen Agrargesellschaft in scharfer Trennung gegenübergestanden. Dennoch sei das Phänomen der Modernisierungskrise nicht von dem der agrarischen Strukturkrise seit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 zu trennen. Das Dilemma des Ancien Régime habe darin bestanden, dass die Industrialisierung des Landes das Ziel verfolgte, die Großmachtposition Russlands zu festigen, ohne dass sich diese ökonomisch rechtfertigen ließ. Für eine Modernisierung sei ein Mindestmaß an sozialer Mobilität erforderlich gewesen und genau diese habe die bisherige soziale Hierarchie untergraben. Daher sei es vor 1917 zu einem Dualismus von konservativem Staat und einer auf Partizipation drängenden Gesellschaft gekommen. Der Staat habe die Aspirationen der Gesellschaft abgeblockt. Kritik und Krise gehörten auch hier zusammen: Da Kritik nicht geäußert werden durfte, sei in einem Radikalisierungsprozess an die Stelle der ‚Waffe der Kritik‘ die ‚Kritik der Waffe‘ getreten. Schon vor 1917 sei es zu einer sukzessiven Überwindung des Ständesystems gekommen, das formal bis zur Oktoberrevolution Gültigkeit hatte. Ständische Kriterien seien mehr und mehr in den Hintergrund getreten, was sich außer an der Aufhebung der Leibeigenschaft auch an der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1874, die ein wichtiges Adelsprivileg abgeschafft habe, zeige. Der Staat selber habe somit die Machtbasis des Ständesystems unterminiert.
Für die Revolution von 1905 sei eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen festzustellen. Die Modernisierungskrise habe sich hier mit dem Problem der Multiethnizität des russischen Staates (Finnland, Ukraine, Kaukasus) sowie der Niederlage im russisch-japanischen Krieg vermengt. In den folgenden Reformen seien der Parlamentarismus und die Staatsgrundsätze konzediert worden. Dennoch habe eine permanente Auseinandersetzung von Krieg, Bürgerkrieg und innerstaatlicher Befriedung geherrscht. Weder damals noch heute könne Russland ein Rechtsstaat bezeichnet werden.
In der Februarrevolution 1917 hätten die Frauen eine bedeutende Rolle gespielt. Ihre Forderung nach Brot im klirrend kalten Winter habe die ökonomische Schwäche des Zarenstaates offenbar werden lassen. Sie sei mit politischen Forderungen nach dem Ende des Krieges und der Autokratie verknüpft worden. In dieser Situation sei das Militär als Stütze fortgefallen, da die Petrograder Garnison sich dem Schießbefehl versagt und die Waffen stattdessen gegen ihre Offiziere gerichtet habe. Damit sei das Ende des Ancien Régime absehbar gewesen. Mit rund 430 Toten sei diese Revolution erstaunlich unblutig verlaufen. In der Februarrevolution seien ein parlamentarischer Staatsstreich im Zeichen der Demokratie und ein Aufstand der Massen in Gestalt von Brotunruhen zusammengetroffen. Die Voraussetzungen der Revolution von 1917 seien dieselben gewesen wie 1905: die Rückständigkeit des Staates und der Massenprotest in Folge der Industrialisierung, die das Proletariat, die entwurzelte Bauernschaft und eine rührige Intelligenzija hervorgebracht habe; dazu der kulturelle Dualismus einer kleinen urbanen, westlich orientierten Schicht gegenüber der breiten Masse auf dem Land. Beide Gruppen seien von völlig verschiedenen Zielutopien geleitet gewesen und hätten nur marginale Berührungspunkte aufgewiesen. Einen Konsens von Staat und Gesellschaft habe es nicht mehr gegeben. Die politische Kurzsichtigkeit der Regierenden habe weitere Konzessionen verhindert. Ihre Regierungsunfähigkeit habe zu einem irreversiblen Vertrauensverlust des Staates geführt, dem sich ein bäuerliches Faustrecht widersetzt habe.
Die zielgerichtete Gewalt der Bolschewiki habe die Weltrevolution zum Ziel gehabt. Die gesamte Erde sollte gereinigt werden. Der Bolschewismus habe als eine Art säkularer Religion eine Ersatzfunktion für den orthodoxen Ritus eingenommen. In seiner Ikonographie seien führende Genossen zunächst stets militärisch aufgetreten, bis sie sich seit Mitte der dreißiger Jahre ziviler präsentierten. Das manichäische Weltbild der Bolschewiki habe die Feinde dämonisiert und die eigene Partei idealisiert. Lenin sei der unangefochtene Führer gewesen. Seine Nachfolger hätten sich daher immer zu ihm und seinem charismatischen Führungsprinzip in Beziehung setzen müssen. Kennzeichen dieser Art der Führung seien der Heroismus, die Ergebenheit an die revolutionäre Sache, die lebendige Verbindung mit den Massen – die Masse erkenne die Richtigkeit und folge dem Führer – sowie die Richtigkeit der Führung, die alles erkenne und antizipieren könne. Als charismatische Führung habe die kultische Verehrung Lenins und Stalins das Problem der ungeregelten Nachfolge in sich getragen. Dass Stalin sich gegen seine Konkurrenten habe durchsetzen können, sei vermutlich vor allem darauf zurückzuführen, dass er kein Jude gewesen sei, was ihm im antisemitischen Milieu der Bauern und des Proletariats eine höhere Akzeptanz verschafft habe. Im Stalinismus habe sich die zunächst vorherrschende Vorstellung des Führers (Lenin) und seines engsten Mitarbeiters (Stalin) dahingehend gewandelt, dass Stalin zunehmend in den Mittelpunkt gerückt sei und Lenin als Attribut Stalins in den Hintergrund getreten sei. Stalin sei auch als Reinkarnation Lenins aufgefasst worden.
In der sowjetischen Außenpolitik habe der Sieg im Zweiten Weltkrieg das Ende der Einkreisungsgefahr durch den Kapitalismus mit sich gebracht. Der Sieg habe für die UdSSR zugleich eine katalytische Funktion gehabt, indem er sie dazu zwang, international Verantwortung zu übernehmen, um die erzielten Kriegsgewinne nicht wieder zu verlieren. Durch das hohe Tempo der waffentechnischen Entwicklung habe der Vorsprung der USA minimiert werden können. Stalins Nachfolger hätten eine politische Kurskorrektur vorgenommen. Malenkows Schlagwort von der „friedlichen Koexistenz“ habe die Freund-Feind-Kategorisierung umgedreht. Als Freund der UdSSR galt fortan, wer nicht offen Position gegen sie bezog. Auch wenn der ideologische Kampf fortgesetzt wurde, habe es auf der Grundlage des Nebeneinanders verschiedener Gesellschaftsordnungen keine militärischen Auseinandersetzungen mehr gegeben. Von der ideologischen Orthodoxie habe man sich insofern verabschiedet, als die Erwartung von einer planmäßigen revolutionären Entwicklung vom Sozialismus zum Kommunismus nicht weiter verfolgt wurde. An ihre Stelle traten die Bemühungen, in den nichtsozialistischen Staaten auch auf parlamentarischem Wege zum Sozialismus zu gelangen. Im Gegensatz zu Stalin habe Chruschtschow nur die Hälfte seiner Amtszeit in Moskau verbracht und sei viel auf Reisen, auch im Ausland, gewesen.
Die Gründe für den Niedergang des Sowjetimperiums bestimmte Häfner in den hohen Rüstungsausgaben, in der hohen Subventionierung der Agrarausgaben und im geringen Anteil der Investitionskosten. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen hohen Menschenverlusten habe es zudem kein Überangebot an Arbeitskräften mehr gegeben, mit dem die sowjetische Wirtschaft bis dahin ihre Rückständigkeit habe kompensieren können.
Mit Blick auf den in den thematischen Schwerpunkten geforderten Vergleich mit Vietnam äußerte Häfner erhebliche sachliche Bedenken. Gewiss habe sich der Gedanke der Weltrevolution auch in der Unterstützung des kolonialen Widerstandes gegen die Kolonialmächte geäußert. Russland sei indes stets eine führende Industriemacht gewesen, die selber kolonisiert habe, und nicht wie Vietnam kolonisiert worden.
Im Anschluss an den Vortrag von Dr. Häfner, der erste, spannende Einblicke in das im zweiten Halbjahr anstehende Oberstufenthema gab und durchaus geeignet war, das Interesse zur weiteren Auseinandersetzung zu wecken, konnte der Vorsitzende den Amsterdamer Geschichtsdidaktiker Dr. Arie Wilschut begrüßen. Wilschut war bereits bei anderen Gelegenheiten Gast des Verbandes und referierte erneut, jedoch in einem weiteren, neu entwickelten Zusammenhang, über die Zeitinsel-Methode des niederländischen Curriculums. Vom niedersächsischen unterscheidet sich dieses dadurch, dass die historische Chronologie nicht nur einmal durchlaufen wird, sondern um weitere Spiralen ergänzt wird. In ihnen werden einzelne Epochen, die mit plakativen Bezeichnungen versehen sind, im Laufe der Jahre – und des kognitiven Reifungsprozesses der Jugendlichen – viel öfter behandelt. In seinem Vortrag setzte Wilschut diesmal den Schwerpunkt auf die theoretische Herleitung der Methode. Hierzu referierte er unter Verweis auf bekannte (Koselleck, Ricoeur) und weniger bekannte Autor(inn)en (Ludmila Jordanova) ausführlich über Zeitvorstellungen. Zeit, so Wilschut, sei, weil kaum thematisiert, ein „vergessenes Schlüsselkonzept“ in Geschichtsunterricht und –didaktik. Die Vorstellung einer linearen historischen Zeit sei anderen Zeitempfindungen nachgeordnet und auch erst spät entwickelt worden: In der Regel sei das Leben der Menschen geprägt von der zyklisch verlaufenden ökologischen, einer das persönliche Zeiterleben widerspiegelnden sozialen sowie einer vergleichsweise undifferenziert in „Damals“ und „Heute“ unterscheidenden mythischen Zeit. Erst die Verschiebung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont in der Moderne (Koselleck) bzw. die Erkenntnis der Menschheit, „dass sie werden musste, was sie nicht länger war“ (Ankersmit) habe die Vorstellung einer historischen Zeit hervorgebracht. Das Konzept der historischen Zeit sei insofern sehr anspruchsvoll und werde nicht von allen Menschen realisiert. Wilschut plädierte daher für eine anschaulichere Vermittlung von Geschichte jenseits einer linearen Zeitvorstellung. Genau dies leiste das Zeitfenster-Modell: Es ermöglicht je individuelle, vergleichende Bezüge zwischen den in ihren charakteristischen Zügen erfassten konkreten Epoche und der Gegenwart des Lernenden. Auf diese Weise entsteht ein empathiegestützter Vergleich zwischen dem „Wir“ des Eigenen und der Fremdheit des „Sie“. Die dominierenden Zeiterfahrung der zyklischen, sozialen oder mythischen Zeit würden hier nicht zugunsten der historischen ausgeblendet, sondern ausdrücklich in der Vergangenheit sichtbar gemacht. Ziel dieser historischen Beschäftigung, so sein praktisches Fazit, solle daher ein phantasievolles Imaginarium der Epochen sein. (Eine englische Fassung des Vortrags findet sich unter
http://members.casema.nl/wilschut/forgottenkeyconcept.pdf.)D
as Nachmittagsprogramm eröffnete in diesem Jahr Frau OStD‘ i.R. Brigitte Netzel, die als Vorsitzende der Henning-v.-Burgsdorff-Stiftung vier Kolleginnen und Kollegen für herausragendes Engagement auszeichnen konnte.
Für ihr Lebenswerk wurde Frau RL‘ Beate Elbracht (Graf-Stauffenberg-Gymnasium Osnabrück) mit einem Buchpreis ausgezeichnet. 17 Jahre lang hat sie eine Geschichts-AG geleitet, aus der unter anderem ein Stadtführer entstanden ist, der inzwischen in sechs Auflagen erschienen ist.
Einen zweiten Preis im Wert von 400 Euro erhielt StR Stephan Kohser (Otto-Hahn-Gymnasium Springe) für ein Projekt zum Thema „Europa im Mittelalter“ in einer 7. Europaklasse mit gesellschaftswissenschaftlichem Schwerpunkt. Ergebnis dieser Arbeit war ein eigenes, von den Schülerinnen und Schüler verfasstes, anspruchsvolles Geschichtsbuch.
Für seine Koordination eines fächerübergreifenden Projektes mit dem Titel „Grenzerfahren“ in einer 11. Klasse wurde auch StR Alexander Haase-Mühlner (Gymnasium Lüchow) mit einem zweiten Preis ausgezeichnet. Dabei hatten sich die Schülerinnen und Schüler mit der Geschichte der DDR befasst.
Der mit 1000 Euro dotierte erste Preis der Stiftung wurde in diesem Jahr Herrn StR Jörn Fielitz vom Viktoria-Luise-Gymnasium in Hameln verliehen, der einen aufwändigen Dokumentarfilm, ebenfalls im Rahmen des letztmalig zu behandelnden Themas ‚Krisen und Umbrüche‘ in Klasse 11 erstellt hatte. Die Jury würdigte insbesondere die detaillierte Planung und gelungene technische Realisierung im Rahmen einer fächerübergreifenden Gruppenarbeit in einer überdurchschnittlich leistungsstarken Klasse.
Zum Abschluss des Vortragsprogramms fanden zwei parallele Workshops statt, denen sich die Teilnehmer zuordnen konnten. Professor Dr. Arnd Reitemeier, der Direktor des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, referierte über das Projekt des digitalen Atlas zur Geschichte Niedersachsens. Dessen Vorgänger war 1989 im Druck erschienen und bereits ein Jahr darauf inhaltlich überholt. Da er zudem außerordentlich unhandlich ist, plant das Institut eine Neubearbeitung, die sowohl als Druck- als auch als digitale Version verfügbar sein soll. Reitemeier präsentierte deren Konzeption vor allem mit dem Ziel, von den anwesenden Kolleginnen und Kollegen inhaltliche und methodische Anregungen für einen sinnvollen Einsatz in Schule und Unterricht zu erhalten.
Christian Werner (CJD Braunschweig) informierte seine Zuhörer(innen) über die Erstellung eines Audioguides für das Jüdische Museum in Braunschweig im Rahmen eines Schülerprojektes.
Auf der abschließenden Mitgliederversammlung wurden der Geschäftsführende Vorstand sowie die Regionalvertreter im Amt bestätigt. Die Lüneburger Regionalvertretung konnte allerdings vorläufig nicht wiederbesetzt werden. Zum neuen Regionalvertreter für die Region Hannover wurde OStD Martin Thunich (Wilhelm-Raabe-Schule Hannover) gewählt.
Johannes Heinßen (Stade)