Nach vier Jahren fand die Frühjahrstagung 2017 wieder einmal im Braunschweigischen Landesmuseum am Domplatz in Braunschweig statt. Anlass war zunächst die große, lange vorbereitete Ausstellung „Im Aufbruch. Reformation 1517-1617“, die nach langjähriger Vorbereitung am 7.5.2017 eröffnet wurde und noch bis zum 19.11. zu sehen ist. In einem Grußwort konnte Direktorin Dr. Heike Pöppelmann darauf hinweisen, dass das BLM das einzige historische Landesmuseum Niedersachsens sei und seine Museumspädagogik in den letzten Jahren aufgestockt habe. Ziel der Museumsarbeit sei es, stärker auf Themen gesellschaftlicher Relevanz einzugehen. So habe man Workshops zu den Themen Populismus und Fake News veranstaltet. Frau Dr. Pöppelmann bekundete das große Interesse des Museums an einer engen Zusammenarbeit mit Schulen. Für alle Teilnehmer(innen) gab es dann auch eine Mappe mit ausführlichen Informationen zu den museumspädagogischen Angeboten.
Infostände der Schulbuchverlage im Museumsfoyer vor Beginn der Tagung
Das Programm des Vormittags bestand wie üblich aus zwei Vorträgen, von denen der erste wiederum als Versuch eines Brückenschlags zu den Kolleginnen und Kollegen des Faches Gesellschaftslehre an Gesamt- und Oberschulen gedacht war. Ausweislich der Teilnehmerliste ist dieser Versuch (erneut) fehlgeschlagen, denn trotz umfänglich versandter Einladungen kam nur eine geringe Zahl der Anwesenden von diesen Schulformen. Und auch der vorgesehene Referent, Dr. Christian Frey, hatte kurzfristig aufgrund anderer Verpflichtungen passen müssen, wurde aber von seinem Kollegen Dr. Christian Werner, zugleich Regionalbeauftragter des NGLV in der Region Braunschweig, hervorragend vertreten.
Werner stellte die Bedingungen, Chancen und Herausforderungen des Gesellschaftslehreunterrichts eloquent und ausgewogen dar. Das Modell der Gesamtschule sei für Schulträger allein aus finanziellen Gründen attraktiv – und damit rolle der Zug in Richtung Gesellschaftslehre. Das Fach, das die Fächer Geschichte, Politik/Wirtschaft und Erdkunde integriert, leide mit seinen vier Wochenstunden zwar, verglichen mit den Deputaten der drei Fächer am Gymnasium, an Zeitmangel, biete aber große planerische Freiheiten für problem- und projektorientierte Zugriffe, die sich den Zielen von Mündigkeit, Orientierungswissen und Verantwortung verschrieben hätten. Individualisierung, kooperatives Lernen, Inklusion und Integration gehörten für Lehrende im Fach Gesellschaftslehre zum Alltag. Das Hauptproblem sah er in der fehlenden Didaktik des Faches. Aus diesem Grund seien 100% der unterrichtenden Lehrkräfte Quereinsteiger. Da immer Anteile des Lehrplans fachfremd zu unterrichten seien, sei die Zusammenarbeit im Kollegium unabdingbar. An Geschichtslehrkräfte würden dann Fragen wie „Was ist eigentlich das Mittelalter?“ mit der Bitte um eine kurze Antwort herangetragen. Andererseits sei für alle Beteiligten klar, dass man mit solchen Problemen nicht allein sei. Werner plädierte für die Errichtung didaktischer Gesellschaftslehre-Lehrstühle und favorisierte eine Gesellschaftslehre-Didaktik vom historischen Denken aus. Hier sei Eile geboten, denn die anderen Fächer würden ihrerseits gern als Leitdisziplin fungieren.
In der anschließenden Diskussion überwogen die Bedenken gegen das Konzept und den damit verbundenen „Häppchenbetrieb“. Kann Orientierung tatsächlich ohne chronologischen Grundaufbau erfolgen, wenn Grundlagen der Domäne nicht gelegt worden sind? Hier blieb die Meinung im Auditorium zurückhaltend und ein Kollege brachte es auf den Punkt: „Der Zug rollt, aber er hält an keinem Bahnhof.“
Dr. Stephanie Zloch, wissenschaftliche Referentin am Georg-Eckert-Institut, erwies sich einmal mehr als Glücksfall. Nachdem sie bereits 2014 zum Thema „Flucht und Vertreibung“ referiert hatte, wandte sie sich diesmal dem Polnischen Nationalismus zwischen 1918 und 1939 zu, über den sie 2007 bei Heinrich August Winkler promoviert wurde, und beleuchtete eine Reihe von Problem- und Handlungsfeldern im Polen der Zwischenkriegszeit.
Eine Teleologie der polnischen Nationalstaatsbildung gab es nicht und die Genese eines polnischen Staates sei zu Beginn des Ersten Weltkrieges nicht absehbar gewesen. Noch 1914 wurden Polen in drei kriegführende Armeen eingezogen und kämpften zunächst gegeneinander. Der Legionenmythos, demzufolge polnische Armeeteile die Unabhängigkeit Polens erkämpften, halte insofern einer historischen Überprüfung nicht stand. Generell unterscheide man in dieser Frage „Passivisten“, die die Entstehung des polnischen Staates auf die Fügung günstiger internationaler Umstände zurückführten, von den „Aktivisten“, die jenen Mythos verträten. Letztere Lesart habe sich in Polen zunächst durchgesetzt.
Mit den Pariser Vorortverträgen sei der Erste Weltkrieg in Osteuropa keineswegs vorbei gewesen; denn da sie die dortigen Staatsgrenzen nicht festlegten, zogen sich die kriegerischen Auseinandersetzungen bis 1921/23 hin. Dies galt insbesondere für den polnisch-sowjetischen Krieg von 1919/21, der Folge eines Machtvakuums und ungeordneter Zustände gewesen sei. Die Zahl der Pogrome sei darin hoch gewesen und auch der ukrainische Nationalismus habe eine Rolle gespielt. Das „Wunder an der Weichsel“, der unverhoffte polnische Sieg gegen die weit ins Landesinnere eingerückte Rote Armee, mündete in den Vertrag von Riga 1921. Kriegszerstörungen habe vor allem der Osten Polens aufgewiesen. Die Curzon-Linie sei in erster Linie ein Schlichtungsversuch in imperialer Tradition, analog zum willkürlichen Ziehen der Kolonialgrenzen, gewesen; sie habe die Lage daher keineswegs befrieden können.
In der politischen Geschichte stütze man sich heute vielfach auf den Gegensatz zwischen der sogenannten „piastischen“ und der „jagiellonischen“ Position des polnischen Nationalismus. Für die erste stehe Roman Dmowski (1864-1939), der den polnischen Staat westlich orientiert auf Kosten Deutschlands errichten wollte, während sein Gegenspieler Jozef Piłsudski ein multiethnisches, tief nach Osten ausgreifendes Staatswesen favorisierte. Dmowski, Duma-Abgeordneter vor 1914, habe jedoch nach 1918 kein öffentliches Amt mehr bekleidet, während Piłsudski, Hauptvertreter der zweiten Position, zunächst Oberbefehlshaber der polnischen Armee, nach dem Militärputsch 1926 dann auch mythisch verklärter Staatschef Polens war.
Abseits dieser bipolaren Beschreibung des polnischen Nationalismus gerate viel Bemerkenswertes aus dem Blick. Ungeklärt sei beispielsweise das Verhältnis von Nationalismus und Demokratie gewesen. Zwar sei der Nationalismus ein Motiv für die Demokraten gewesen; doch der demokratische Pluralismus wurde auch als Gefährdung der nationalen Einheit angesehen. Dies habe mittelfristig zu einer „gelenkten Gesellschaft“ in einem autoritären Staatswesen geführt. Jedenfalls habe die Nation als Argument für beide Formen des Staatsverständnisses gedient.
Bauernpartei und Sozialisten hätten ein eigenes Nationsverständnis gehabt. Sie stellten den Begriff „Volkspolen“ ins Zentrum. Der polnische Nationalismus habe zunächst auf dem Konzept der Adelsnation – der Adel umfasste immerhin zehn Prozent der Bevölkerung – aufgebaut. Wie konnte nun das einfache Volk (lud) in diese Nation (narod) integriert werden? Bauernpartei und Sozialisten sahen den Nationalismus daher als Emanzipationsprozess innerhalb der polnischen Gesellschaft. Diese Facette, für die beispielhaft das Wirken von Vincenty Vitos stehe, sei keineswegs marginal.
Der polnische Staat der Zwischenkriegszeit sei ein multiethnischer Staat gewesen, der als Nationalstaat nicht funktioniert habe. Eine mögliche Lösung hätten eventuell weitreichende Autonomieregelungen für ethnische Minderheiten sein können – eine interessante Perspektive angesichts der bestehenden Mythen.
Teilnehmerinnen und Teilnehmer hören den Vortrag von Frau Dr. Zloch.
Nach der Mittagspause wandten sich die rund 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann dem eigentlichen Tagungsanlass zu. In zwei Gruppen führten Museumspädagogin Wiebke Siemsglüß – sie hatte auch die museumsseitige Organisation der Tagung in der Hand – und zwei Kuratorinnen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Ausstellung und erläuterten Hintergründe ebenso wie Ziele und Absichten des Konzepts. Die sinnvoll dosierten Exponate sind in attraktive, zumeist im Dunkel gehaltene räumliche Arrangements eingebettet. Die Lesart der Reformation ist durchaus modern, da sie nicht als große protestantische Meistererzählung präsentiert wird, sondern umfassend in den historischen Kontext der Zeit eingebettet ist. Auf diese Weise entsteht ein (europäisches, bisweilen gar globales) Panorama des Jahrhunderts, in dem die Reformation als ein Prozess unter vielen stattfand. Wichtige didaktische Prinzipien wie das der Multiperspektivität werden konsequent eingehalten. Für jüngere Schülerinnen und Schüler bietet das Schülermuseum im selben Haus ein adäquates Angebot für einen handlungsorientierten Zugang zum Thema.