Nach sechs Jahren fand die Frühjahrstagung des NGLV wieder einmal in Lüneburg statt, mit großzügiger Unterstützung der Stadt Lüneburg in bewährter Weise organisiert vom Regionalvertreter Dr. Uwe Plath. Im Huldigungssaal des Rathauses trafen sich am 17.5.2011 rund siebzig Kolleginnen und Kollegen, denen Bürgermeister Dr. Scharf, ehemaliger Schulleiter des Gymnasiums Oedeme, in einem engagierten Grußwort die Vorzüge seiner sich dynamisch entwickelnden Stadt nahebrachte und einige Etappen der Stadtgeschichte vor Augen stellte. Dabei wies er auf den 32. Internationalen Hansetag hin, der vom 28.6.-1.7.2012 in Lüneburg stattfinden wird.
Wie üblich wies das Tagungsprogramm für den Vormittag zwei zentrale Vorträge auf, denen sich am Nachmittag parallele Sektionen zum historischen Bildungsangebot vor Ort anschlossen.
Den ersten Vortrag des Vormittags hielt Dr. Michael C. Schneider (Göttingen). Er referierte über die Ursachen, den Verlauf und die Folgen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland. Diese drei Aspekte in einem Vortrag von einer dreiviertel Stunde unterzubringen sei schon von der Idee her gewagt und nur schwer zu realisieren. Denn als Indikatoren der Weltwirtschaftskrise könnte eine Vielzahl von Faktoren gedeutet werden. Insbesondere die statistischen Daten über die Entwicklung der Löhne, der Preise und der Zinsen spielten hier eine Rolle. Vor allem aber müsse auf den Konjunkturverlauf der Jahre von 1925 bis 1939 gesehen werden, wobei vier Indikatoren zu beachten seien: die Investitionsgüter, die Industrieproduktion ohne Nahrungsmittel, die Verbrauchsgüterproduktion des sog. elastischen Bedarfs und die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen.
Auszugehen sei von den strukturellen Veränderungen in der Weltwirtschaft, die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst worden seien. Hier liege eine entscheidende Voraussetzung der Weltwirtschaftskrise. Durch den Weltkrieg seien Substitutionsprozesse in der Industrie ausgelöst worden, außerdem sei es zu raschen Vergrößerungen der Anbauflächen in den USA gekommen, was einen Druck auf die Preise verursacht habe. Schließlich seien die USA in eine umfassende Gläubigerrolle den westlichen Alliierten gegenüber gekommen, die ihre Kriegsausgaben weitgehend über Kredite aus den USA abgedeckt hätten, weshalb sie nach Kriegsende so unerbittlich auf der Zahlung von Reparationen bestanden. Diese bezahlte Deutschland wiederum mit Hilfe von Krediten aus den USA, so dass von einem „Schuldenkarussell“ gesprochen werden könne.
Zu den Voraussetzungen der Weltwirtschaftskrise gehöre auch die Rückkehr zum Goldstandard. Der Goldstandard mit seiner Garantie fester Wechselkurse beruhte auf dem festen Glauben, dies sei die Basis guter Wirtschaftsfunktion. Man erwartete einen regelmäßigen Ausgleich von Handelsbilanzdefiziten durch den Goldabfluss, dadurch sinkende Preise, da sich die Geldmenge verringere, was wiederum zur Hebung der Wettbewerbsfähigkeit und somit zur Aufhebung des Handelsbilanzdefizites führe. Durch die Zentralbank, die den Diskontsatz anhebe und damit eine deflationierende Wirkung ausübe, werde dieser Effekt beschleunigt. Allerdings werde in der heutigen Forschung die Durchschlagskraft der deflationierenden Wirkung insbesondere des Goldstandards in Zweifel gezogen.
Damit ging Schneider zu den unmittelbaren Auslösern der Weltwirtschaftskrise über. Es sei in erster Linie der Rückfluss der amerikanischen Anleihen aus Europa zu nennen, ausgelöst durch eine Spekulationskrise in den USA. Der Börsenboom in den USA sei im Herbst 1929 kollabiert, was eine anhaltende Depression in den USA zur Folge gehabt habe. Dies habe im Verlauf des Jahres 1931 auch für Deutschland verschärfende Folgen gehabt, denn es sei zu zusätzlichen Kündigungen von amerikanischen Krediten gekommen. Der NS-Aufstieg in Deutschland habe sich in diesem Zusammenhang für amerikanische Gläubiger psychologisch negativ ausgewirkt und weitere Zusammenbrüche nach sich gezogen. So stand im Mai 1931 der Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt bevor. Der Konkurs des „Nordwolle“-Konzerns habe die Danat-Bank in Gefahr gebracht. Da die Reichsbank die Danatbank nicht stützte, kam es in der Folge zu einer Bankenkrise und zum Einlegen von sog. Bankfeiertagen. Dresdner Bank, Commerzbank und z.T. auch die Deutsche Bank wurden vom Staat übernommen. Seit Juli 1931 bis in das Jahr 1934 hinein unternahm das Reich weitreichende Schritte zur Verhinderung weiterer Bankenkrisen. So wurde eine Bankenaufsicht eingerichtet und ein Bankengesetz vorbereitet. Außerdem wurde eine Devisenkontrolle großen Ausmaßes eingeführt. Diese Bankengesetze wurden durch die nachfolgenden NS-Gesetze bruchlos weitergeführt.
Abschließend kam der Referent auf Brünings Deflationspolitik zu sprechen. Diese sei weithin gescholten worden. Aber es müsse gefragt werden, ob es dazu eigentlich eine Alternative gegeben habe. Insbesondere Knut Borchardt habe sich in der nach ihm benannten „Borchardt-Kontroverse“ diese Frage zu eigen gemacht und die These vertreten, bis zum Frühjahr 1931 sei die Krise nicht als anormale Krise erkennbar gewesen, was eine Voraussetzung für abweichende Maßnahmen gewesen wäre. Das Reich sei zudem gehindert gewesen, Kredite in ausreichender Höhe für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufzunehmen, zumal die Angst vor einer erneuten Inflation lähmend hinzukam. Schließlich sei die Reichsbank, da sie seit dem Dawesplan Teil eines internationalen Vertragswerkes war, nicht in der Lage gewesen, die Reichsmark beliebig abzuwerten.
Keynes‘ Ideen konnten demnach zu dieser Zeit nicht wirklich greifen. Aus psychologischen Gründen sei die Aufhebung des Goldstandards nur schwer vorstellbar gewesen und kreditfinanzierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie eine expansive Wirtschaftspolitik seien aus den oben genannten Gründen nicht umsetzbar gewesen.
Parallel zu diesem ersten Vortrag informierte StD Peter Heldt (Braunschweig) noch einmal über das neue Kerncurriculum für die Oberstufe und stellte sich kritischen Fragen seiner Zuhörer. Dabei gab er auf Nachfrage einen interessante Konkretisierung zu den ergänzenden Hinweisen für das erste Zentralabitur, das nach dem neuen Kerncurriculum stattfinden wird: Bei den als verbindlich genannten wirtschaftspolitischen Konzepten von Joseph Schumpeter sei an Publikationen aus dem Zeitraum der Weltwirtschaftskrise, genauer: dessen wirtschaftspolitische Aufsätze gedacht, mit denen er die Brüningsche Deflationspolitik kommentiert habe. Dennoch waren diese Hinweise nicht geeignet, die Besorgnisse der Zuhörer hinsichtlich der wenig konkreten Handreichungen zum Theoriemodul aus der Welt zu schaffen. Es wurde die Befürchtung geäußert, dass die Unsicherheit der Kollegen zu einer Theorielastigkeit der Semesterplanung führen werde und das Quellenstudium demgegenüber an Bedeutung verlieren werde. Erschwerend kommt zweifellos die begrenzte Verfügbarkeit der Theorietexte, insbesondere im ländlichen Raum, hinzu. Die von Heldt vehement vertretene These, dass das neue Kerncurriculum neue planerische Freiheit eröffne, wird, so steht zu befürchten, auf diese Weise womöglich zur Farce, da man den Vorgaben der Schulbuchautoren ausgeliefert ist und in der Fläche kaum in der Lage sein dürfte, sich mit Bordmitteln seine Auswahl fundiert selber zu erarbeiten.
Um nicht vollends im Dickicht der Herausforderungen des neuen Oberstufenunterrichts gefangen zu bleiben, widmete sich der zweite Vortrag des Vormittags dem für Lüneburg naheliegenden Thema „Hanse“. Professor Dr. Stephan Selzer (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) referierte zum Stand ihrer Erforschung und zu ihrem Platz im öffentlichen Bewusstsein. Seine Ausführungen waren allerdings keine wohlige Traditionspflege, wie das kollektive Gedächtnis norddeutscher Städte sie kultiviert, sondern eine eindringliche Dekonstruktion des modernen Denkens über die Hanse. Selzers Anliegen bestand darin, den populären Aussagen über die Hanse den Stand der wissenschaftlichen Forschung gegenüberzustellen. Die dabei zu beobachtende Kluft sei durch die Verschiebung der Hanse-Forschung entstanden, die mit den Arbeiten von Fritz Rörig bereits vor dem Ersten Weltkrieg begonnen habe. Mit ihnen sei die Deutung der Hanse als „Staat der Städte“ zerbrochen. An ihre Stelle sei die Deutung als niederdeutsche Zweckgemeinschaft zum Erwerb von Handelsprivilegien norddeutscher Fernhändler getreten. Die Hanse wurde seither in zunehmendem Maße als personales Netzwerk mit sehr unterschiedlichen Interessen beschrieben.
Ausgehend von Lüneburger Überlieferung konnte Selzer nachweisen, dass populäre Deutungen der Hanse, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden seien, in den Überresten keinerlei Entsprechung fänden. Bereits die Opulenz gemeinsamer Festmähler stehe im Widerspruch zur Gediegenheit und Bürgerlichkeit als Werten des heutigen hansischen Selbstverständnisses. Es fänden sich keine zeitgenössische Selbstbeschreibungen als „Hanse“, geschweige denn habe eine Stadt stolz auf die Zugehörigkeit zur Hanse verwiesen. Generell bleibe die Hanse in zeitgenössischen Darstellungen blass. Der Grund hierfür sei darin zu sehen, dass die Hanse zu keiner Zeit als Städtebund gedacht worden sei, sondern stets als Gemeinschaft von Kaufleuten niederdeutscher Zunge, deren Ausgangspunkt die Kaufleutegilden in Nordwesteuropa gewesen sei. Nie sei die Hanse daher staatlicher Selbstzweck, sondern stets wirtschaftliche Zweckgemeinschaft gewesen. Ihren Ausdruck habe sie im geschlossenen Auftreten der Fernhändler in auswärtigen Städten gefunden. Der Gedanke der einen Hanse (im Gegensatz zu vielen einzelnen Hansen) sei erst durch eine Krisensituation entstanden. Zwischen 1250 und 1370 hätten Konflikte in den Handelsorten die Solidarität von Gildegenossen erzwungen. Ausscherende Gildegenossen seien durch die Zwangsgewalt der Städte diszipliniert worden. Der erste Hansetag in Lübeck 1358 etwa sei Folge der sog. Flachsblockade in Brügge gewesen.
Als Organisation sei die Hanse stets blass geblieben. Sie habe über kein eigenes Personal verfügt, kein eigenes Siegel geführt und auch kein gemeinsames Totengedenken praktiziert. Allerdings griff sie auf die Ressourcen der Städte zurück. Dennoch könne von einer „Städtehanse“, wie noch 2006 auf einer Sonderbriefmarke in Deutschland und Schweden insinuiert, nicht die Rede sein. Stets habe die Hanse Personen, nicht Städte für ihre Mitglieder gehalten; Hansestädte seien daher Städte mit Bürgern, die an der Hanse beteiligt gewesen seien. Ihr einendes Band sei, wenn überhaupt, stets das Heilige Römische Reich gewesen. Dass es keinen Städtebund der Hanse gegeben habe, zeige sich nicht nur daran, dass die einzelnen Städte sehr unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse besessen hätten, sondern auch an wechselnden Bündnissen unter den vermeintlichen Hansestädte: Lüneburg etwa habe seine Monopolstellung im Salzhandel dadurch verteidigt, dass es andere Salinen (z.B. Halle) vom Seeweg abgeschnitten habe. Am zweiten hansisch-dänischen Krieg 1426-1435 seien lediglich fünf Städte beteiligt gewesen. Oft habe es innerstädtische Opposition gegen die Erweiterung des Kreises hansischer Kaufleute gegeben. Hier habe sich die Doppelidentität von hansischem Kaufmann und städtischem Ratsherrn ausgewirkt. Von einer hansischen Solidarität könne also insgesamt keine Rede sein. In der Geschichtsschreibung seien insofern die ehemaligen Helden mittlerweile zu Händlern, die Befehlenden zu Aushandelnden geworden.
Das populäre Bild der Hanse habe über Jahrzehnte hinweg die Sehnsüchte späterer Generationen aufgenommen. In der Geschichtschreibung des 19. Jahrhundert sei das politische Denken der Zeit auf die Hanse projiziert worden. So habe sie zunächst den Niedergang des Reiches zwischen dem Niedergang des Stauferreichs und dem Aufstieg Preußens zu einem Teil auffangen müssen; im Zeichen des Navalismus sei ihr dann das Prädikat einer Seemacht zugeschrieben worden. Auch der NS habe sie infam für sich in Dienst genommen. Neuerdings werde sie – nicht minder zu Unrecht – als Vorläufer der europäischen Integration bemüht. Hier liege womöglich auch der Reiz für den Unterricht: die Rezeption der Hanse-Geschichte durch spätere Epochen verdiene nähere Untersuchung.
Nach der Mittagspause standen vier Lüneburger Experten bereit, im Rahmen paralleler Workshops das museale und kulturelle Angebot zu historischen Themen vorzustellen. Stadtarchäologe Dr. Edgar Ring berichtete über „Archäologische Funde als Spiegelbild. Lüneburger Handelsbeziehungen zur Spätzeit der Hanse“. Dr. Christian Lamschus, der Direktor des Deutschen Salzmuseums informierte über „Salz, Arbeit, Technik: Die Lüneburger Saline und ihre Folgen für die Hansestadt und ihre Region“. Stadtarchivar Dr. Thomas Lux untersuchte anhand von Quellen des Stadtarchivs militärische Präventionsmaßnahmen der Hansestadt Lüneburg im 14. und 15. Jahrhundert. Dr. Joachim Mähnert informierte als Direktor des Ostpreußischen Landesmuseums über die Kultur- und Vermittlungsarbeit im Ostpreußischen Landesmuseum. Nach einer Museumsführung berichtete er dazu über die Geschichte seines Hauses. Insbesondere im zuletzt genannten Museum war eine erhebliche Anzahl von Kolleginnen und Kollegen als Teilnehmerkreis versammelt. Sie erfuhren auch etwas über die Rolle der übrigen Landesmuseen ehemals ostdeutscher Länder wie Schlesien und Pommern und ihre gesetzlich verankerte Rolle bei der Pflege der Geschichte und Kultur dieser Gebiete.
Johannes Heinßen/Martin Stupperich