Am 30.5.2012 fand die diesjährige regionale Tagung des Niedersächsischen Geschichtslehrer-verbandes statt. In der Nordwolle Delmenhorst, deren Zusammenbruch Auslöser der Bankenkrise 1931 und die heute im Nordwestdeutschen Museum für Industriekultur aufgehoben ist, hatten StD Dr. Hans-Joachim Müller und seine Kollegin, OStR’ Herta Hoffmann, (beide Max-Planck-Gymnasium Delmenhorst) mit tatkräftiger Unterstützung der Museumsmitarbeiter ein ansprechendes Programm zusammengestellt. Im stilvollen Ambiente des Turbinenhauses versammelten sich die rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, überwiegend aus der Region Oldenburg/Ostfriesland, um den zentralen Vorträgen des Vormittags zu lauschen.
Dabei wurde der Vortrag des Bielefelder Althistorikers Professor Dr. Uwe Walter übereinstimmend als große Bereicherung empfunden. Walter referierte über das Thema „Krise(n) der römischen Republik seit dem 2. Jahrhundert. v. Chr.“, das im niedersächsischen Zentralabitur 2014 für das erste Semester verbindlich sein wird. Es gelang ihm, die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen, indem er die bisher zumeist unhinterfragte Meistererzählung eines zunehmenden Verfalls der inneren Ordnung infolge der außenpolitischen Erfolge Roms einer kritischen Sichtung unterzog und das Geschehen im Gegenzug als Transformationsgeschichte der politischen Verfassung Roms neu erzählte.
Die römische, von der Senatsaristokratie getragene Politik sei auf die Wahrnehmung sozio-politischer Problemlagen gar nicht ausgerichtet gewesen und konnte sie über weite Strecken auch getrost ignorieren, da der Politik in Rom der Auftrag der Problemlösung fehlte, wie er der modernen Politik eingeschrieben ist. Es existierte kein institutionalisiertes Instrumentarium der Problemwahrnehmung. Stattdessen orientierte sie sich an familial geprägten Machtvorstellungen, zu deren Änderung wenig Anlass bestand, nachdem die Gefahr einer militärischen Bedrohung für Rom nach dem Hannibalkrieg nicht mehr bestand. Diese Einseitigkeit erschwerte einen politischen Interessenausgleich, der im Zeichen vermehrt auftretender sozialer Problemlagen zunehmend erforderlich wurde. Bei diesen handelte es sich vorrangig um demographische Basisprozesse wie Bevölkerungswachstum, Binnenwanderungen und Zuzug in die Städte sowie die Prekarität vor allem junger Männer, andererseits aber auch das Ende von Ansiedlungsprogrammen. Weniger konstitutiv hingegen seien die oft genannten Belastungen der Landbevölkerung durch den Dienst im Milizheer gewesen. Der „Vorrang der Verfahren gegenüber möglichen Inhalten“, die starke Konzentration von Macht- und Entscheidungsbefugnissen, verhinderte eine flexible Reaktion auf neue Herausforderungen.
Während die Senatsaristokratie infolge dieser Veränderungen an Ansehen und Legitimität verlor, formierten deren Vertreter jetzt zunehmend horizontale Interessengruppen zu ihrer Unterstützung. Diese Gruppen konstituierten sich gewissermaßen quer zu den bislang dominierenden vertikalen Vernetzungen in Form des Klientelwesens. Erstmals ließ sich diese Entwicklung während der Gracchischen Reformen beobachten, sie setzte sich dann aber mit gesteigerter Intensität in den Wirren des ersten Jahrhunderts v. Chr. fort. Eine besondere Rolle kam dabei zum einen dem Volkstribunat, im weiteren Verlauf aber auch dem Konsulat zu, das über seine militärische Kommandogewalt ebenfalls imstande war, eine große Gruppe an sich zu binden. Damit zog ein neuer Politikstil ein, auf den die traditionell operierende Senatsaristokratie mit dem Rückzug auf eine Position der Machtsicherung reagierte – um den Preis, sich den Interessen großer Teile der Bevölkerung immer weiter zu verschließen. Das Hervortreten einzelner Akteure unter den bürgerkriegsartigen Bedingungen der späten Republik (z.B. Sulla, Marius, Pompeius, Caesar) markierte vor allem die gesteigerte Risikobereitschaft innerhalb der römischen Aristokratie; sie setzte die machtpolitisch definierte Einseitigkeit der römischen Politik, der „die Stoßdämpfer fehlten“, unter den neuen strukturellen Bedingungen der Politik formal in fataler Weise fort.
Der römische Bürgerkrieg 49-45 v. Chr. war die letzte, äußerste Dehnung des alten Systems unter den neuen Bedingungen. Die Krise der römischen Republik könne insofern als die Konkurrenz zweier Politikmodelle, eines traditionell-aristokratischen, eher kurzfristig ausgerichteten und eines neuen, von Interessengruppen getragenen, langfristigen, dynamischen beschrieben werden. Im Gegensatz zu den modernen Revolutionen verwendeten beide Gruppen dieselbe Sprache und bezogen sich jeweils auf die Erhaltung der res publica. Octavian gab dem Staat schließlich eine dauerhafte Stabilität, die im Grunde zuvor nie vorhanden gewesen war. Sie war eine welthistorisch erfolgreiche Systemtransformation, deren Bruch von den Zeitgenossen weit weniger wahrgenommen wurde, als dies die moderne Forschung tut. Erstmals zeichnen sich jetzt Umrisse einer römischen, langfristig angelegten und koordinierten Politik und Verwaltung ab, die ihr Zentrum im Willen des Princeps hatte. Sie integrierte darüber hinaus die alte Senatsaristokratie und warf in der Wahrnehmung der Zeitgenossen eine beträchtliche Friedensdividende ab.
Auch wenn Professor Walter die eingangs kritisierte Meistererzählung insofern vor allem semantisch innovierte, so stieß sein Vortrag doch auf große Zustimmung, da er Altbekanntes beispielhaft und einleuchtend in ein neues Licht stellte und den wissenschaftlichen Fortschritt auch für ein Publikum erfahrbar machte, das nicht an der Spitze der Wissenschaft arbeitet. Darüber hinaus stellte er eine Verbindung zwischen der Krisengeschichte Roms und dem Theoriemodul des zweiten Semesters her.
Den zweiten Vortrag des Vormittags hielt der Oldenburger Geschichtsdidaktiker Professor Dr. Dietmar von Reeken zum Thema „Lernen im Museum“. Er stellte Vorzüge, Probleme und Bedingungen eines erfolgreichen Unterrichtsgeschehens am außerschulischen Lernort vor. Deutlich wurde in seinem Vortrag, dass das Museum keineswegs als Ort gelten kann, an die Lerngruppen quasi an der Eingangstür abgegeben werden können. Vielmehr ist eine didaktische Konzeption notwendig, die den Eigenheiten des Lernortes gerecht wird und sowohl seine Chancen als auch seine Gefahren im Blick hat.
Nach der Mittagspause verteilten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf vier Workshops, die sich allesamt mit Themen beschäftigten, die in einer Beziehung zum Tagungsort standen und von Museumsmitarbeitern geleitet wurden: Ingrid Heimann referierte über „Die Industrialisierung und die Nordwolle“, Museumsleiter Hans-Hermann Precht über das Thema 100 Jahre Migration am Beispiel der Nordwolle, Sönke Ehmen über die Nordwolle in den Arbeitskämpfen und sozialen Auseinandersetzungen seit 1897. Die Kollegen Hans-Joachim Müller und Herta Hoffmann stellten in ihrem Workshop konkrete Überlegungen an, wie man die Nordwolle in die aktuellen Oberstufenthemen einbinden könne. Zum Abschluss der Tagung wurden die Ergebnisse der Arbeitsgruppen im Plenum zusammengetragen.
Johannes Heinßen (Stade)