In schulpolitisch bewegter Zeit fand die diesjährige Frühjahrstagung des Niedersächsischen Geschichtslehrerverbandes statt. Trotz der Randlage Stades nahmen rund 85 Kolleginnen und Kollegen aus dem ganzen Land daran teil und fanden sich im historischen Ambiente des Königsmarcksaales im Stader Rathaus aus der Mitte des 17. Jahrhunderts ein.
Erster Referent des Vormittagsprogramms war Dr. Maik Ohnezeit (Bismarck-Stiftung Friedrichsruh). Er sprach zum Thema „Geehrt – verehrt – vereinnahmt. Otto von Bismarck in der Erinnerungskultur“. Anlass waren der 200. Geburtstag Bismarck sowie das Viertsemesterthema „Mythen“ im Zentralabitur 2016. Zunächst stellte er jedoch die politische und Jugendarbeit der Bismarck-Stiftung Friedrichsruh vor, eine vom Bund getragene Stiftung, die 1997 gegründet wurde.
Ohnezeit zeichnete dann die Geschichte der Bismarck-Rezeption nach. Bereits wenige Jahre nach seinem Abgang 1890 entwickelte sich im Kaiserreich eine glühende Bismarck-Verehrung als Bestandteil der Erinnerungskultur des Wilhelminismus. Getragen vom patriotisch gesinnten Bürgertum, entstanden zahlreiche Denkmäler, z.B. die bekannten Bismarck-Türme. Aufgrund seiner Kampagnen gegen politische Minderheiten, die sogenannten Reichsfeinde (Sozialisten, Katholiken, Partikularisten) gewann er jedoch niemals den Status einer Identifikationsfigur für die Gesamtbevölkerung. Bismarck widersetzte sich der Vereinnahmung durch völkische Gruppen nicht.
Nach 1918 nahmen revisionistische Parteien, vorzugsweise die DNVP, den Bismarck-Mythos in ihren Dienst. Er erhielt dadurch einen antidemokratischen Schwerpunkt. Die demokratischen Parteien gelang es nicht, einen ähnlich starken Mythos für ihre Zwecke aufzubauen. Verstärkt wurde der Bismarck-Mythos durch einen verklärenden Geschichtsunterricht. Hitler beerbte die vorhandene Prägung eines Bedürfnisses nach einer starken Persönlichkeit. Suchte man nach 1923 zunächst die Kontinuität von Bismarck zu Hitler zu betonen, so trat die Bismarck-Verehrung bald hinter dem Führerkult zurück.
Nach 1945 setzte dann die Dekonstruktion Bismarcks, d.h. seine Entmythisierung ein. In der historisch-kritischen Auseinandersetzung mit seinem Werk wurden nun vor allem die antimodernistischen Züge seines politischen Lebenswerkes besonders akzentuiert.
Den zweiten Vortrag des Vormittags hielt der Göttinger Landeshistoriker Professor Dr. Arnd Reitemeier. Er stimmte die Zuhörerschaft auf das ab dem nächsten Schuljahr anstehende Erstsemesterthema „Spätmittelalter und Reformation“ ein. In seinem breit gefächerten Überblick ging er auf viele Themen ein, die für die vermeintliche Krise des Spätmittelalters verantwortlich und charakteristisch sind.
Die sogenannte Kleine Eiszeit, eine Klimaverschlechterung nach dem hochmittelalterlichen Temperaturoptimum, stehe in seinen Auswirkungen weit hinter dem demographischen Wandel zurück, der durch die Pest verursacht sei. Dabei sei „Pest“ ein Sammelbegriff für viele Krankheiten, z.B. grippale Infekte und virale Infektionen. Der Bevölkerungsrückgang führte zum Zuzug in den Städte. Auf den noch bewirtschafteten fruchtbaren Flächen wurde die Landwirtschaft intensiviert, z.B. durch Obstkulturen. Der Rückgang der Getreideproduktion ging nach 1300 zurück und führte zur sogenannten Agrardepression. Sie kehrte sich im 15. Jahrhundert um. Zugleich verteuerte sich die gewerbliche Produktion, da die Löhne aufgrund des Bevölkerungsrückgangs stiegen. Im Handwerk setzte ein Spezialisierungsprozess ein. Die Mobilität stieg: An die Stelle persönlicher Abhängigkeit trat zunehmend die ökonomische. Durch die Ernteausfälle verschuldeten sich viele Bauern und sanken zu Köthnern hinab. Auf diese Weise wuchs die Schicht des Prekariats auf dem Lande.
Die Bauernkriege fanden vor allem im Süden des Reiches statt. Im Norden entsprachen ihnen gewaltsame Konflikte in den Städten.
Politisch ist das späte Mittelalter vom Aufstieg der Habsburger gekennzeichnet, die es durch eine geschickte Heiratspolitik verstanden, ihre bis dahin periphere Stellung im Reich bis zur Kaiserwürde zu steigern. Die lange Abwesenheit eines starken Königtums hatte zur Ausbreitung des Fehdewesens geführt. Mit der Errichtung des Reichskammergerichtes sowie des Reichstages als Organ konsensualer Herrschaft besserten sich die Verhältnisse. Die Fehden gingen im 16. Jahrhundert zurück.
Die technologische Entwicklung, z. B. im Bergbau, schritt voran. Dennoch gab es Phänomene der Unsicherheit, etwa weil Bauernregeln nicht mehr funktionierten.
Seelsorger waren damals Landwirte mit Nebenberuf. Das große abendländische Schisma war ein Symptom umfassender Reformationstendenzen. Sie begannen bereits im 15. Jahrhundert, als allerorten Pfarrkirchen errichtet wurden. Die devotio moderna entstand als neue Form innerlich praktizierter Religiosität. Die Kritik an der Kirche wuchs, ihre Relevanz für die Memoria des Adels wurde jedoch nicht infragegestellt.
Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts trafen auf die Humanisten. Sie konstruierten die vorangegangenen Jahrhunderte als Zeit des Rückschritts. Insgesamt durchlief die Kirche keine Krise, es habe aber eine latente Unsicherheit über den Weg zum Heil gegeben. Man kritisierte die Intellektuellen an den Universitäten; vorangetrieben wurden die reformatorischen Tendenzen vor allem in den Klöstern. Übersehen werden dürfe indes auch nicht, dass sich weite Teile des Klerus überhaupt nicht äußerten. Luthers Popularität markierte den Wechsel von einer reinen Priesterkirche hin zur Kirche einer intellektuellen Elite, die Glaubensfragen akademisch diskutierte, anstatt praktisch gegen Häresien zu Felde zu ziehen.
Abschließend nahm Professor Reitemeier zum Begriff der Krise in seiner Anwendung auf das späte Mittelalter Stellung und positionierte sich hier pointiert: Die verschiedenen Phänomene hätten zu einer Konstruktion von Verfall und Niedergang geführt. Namhafte Autoren seien Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters (1919), Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert (1935) und Barbara Tuchman, Der ferne Spiegel (1978, dt. 1980). Allen drei Publikationen sei eigen, dass sie sich mit der Krise des Spätmittelalters beschäftigten und in sie Krisenerfahrungen ihrer Gegenwart hineinprojizierten. Am Ende des Mittelalters habe es kein Bewusstsein einer allgemeinen Krise gegeben; es handele sich um Imagination des 20. Jahrhunderts.
Insofern könne man sich dem Semesterthema „Krise des Spätmittelalters“ auf drei verschiedenen Wegen nähern: Man könne dem Begriff folgen und ihn empirisch zu erläutern suchen. Das sei dann aber eine wissenschaftlich veraltete Sicht. Man könne ferner den Krisenbegriff als Ergebnis der Forschung hinterfragen und ihn dekonstruieren. Oder man könne nach Mustern bei den für seine Genese Verantwortlichen suchen.
Nach einer Mittagspause fanden wie gewohnt mehrere parallele Workshops statt. In einem Workshop zum Vortrag referierte Professor Reitemeier über Quellen zur Geschichte des Spätmittelalters. Die Landesarchivare Dr. Thomas Bardelle und Dr. Jörg Voigt führten durch den Neubau des Stader Landesarchives, den derzeit modernsten Archivbau Deutschlands, und erörterten mit den Teilnehmern Möglichkeiten der Kooperation von Schule und Archiv. Wer zum ersten Mal in Stade war, konnte an einer Stadtführung teilnehmen, die Dr. Beate-Christine Fiedler (NLA Stade) anbot. Das Schwedenspeichermuseum Stade sowie sein museumspädagogisches Angebot stellte dessen stv. Direktor, Hans-Georg Ehlers, vor. Und in einem Workshop zum neuen Kerncurriculum stellte der Vorsitzende dessen Grundüberlegungen und Eckdaten vor. Da noch Zeit war, schloss er einen Vortrag zur historischen Urteilsbildung an, die durch das neue KC besonders akzentuiert wird.
Wer danach noch Zeit hatte, konnte – außerhalb des Tagungsprogramms – in der benachbarten St. Cosmae-Kirche die Huß/Schnitger-Orgel als vorzügliches Zeugnis norddeutscher Orgelbaukunst kennen lernen.