Erstmals seit der Fusion der beiden Geschichtslehrerverbände aus Niedersachsen und Bremen fand die traditionell an wechselnden Standorten abgehaltene Frühjahrstagung am 7.6.2018 in Bremen statt. Ort war die St.-Johannis-Schule mitten in der Innenstadt, im Schatten des Doms. Dort hatte der Bremer Regionalvertreter Dr. Oliver Rosteck hervorragende Bedingungen für einen intensiven Fortbildungstag geschaffen und die Tagung mit Unterstützung seiner Schulleitung perfekt vorbereitet. Rund 40 Kolleginnen und Kollegen hatten sich dazu eingefunden.
Um der Bremer Kollegenschaft entgegenzukommen, hatte der Vorstand nach thematischen Schnittmengen gesucht und sie im Thema Geschichte der späten DDR gefunden. Es ist sowohl in der Qualifikationsphase in Bremen gesetzt, dürfte erfahrungsgemäß aber auch im neuen 11. Jahrgang in Niedersachsen im Modul „Vom 20. ins 21. Jahrhundert – eine Zeitenwende?“ eine exponierte Rolle spielen. Entsprechend war das Vormittagsprogramm ausgerichtet. Dr. Heidi Martini, vormals Osnabrück, jetzt Hamburg, referierte über ihr Spezialgebiet, den DDR-Film, und deckte damit ein weiteres Thema ab, das niedersächsische Kolleginnen und Kollegen aktuell beschäftigt, weil es im vierten Semester ab dem Zentralabitur 2019 gesetzt ist: die Einbindung von Filmen bzw. Filmanalysen im Geschichtsunterricht. Martini bemühte sich zunächst, Berührungsängste zu nehmen und warb für ein pragmatisches Herangehen im Rahmen des Geschichtsunterrichts. Niemand dürfe hier ein akademisches Herangehen, womöglich nach Erstellung umfänglicher Filmprotokolle erwarten. Eine Filmanalyse im eigentlichen Sinne müsse der Geschichtsunterricht nicht leisten, wohl aber könne er sich zahlreicher Materialien zu Filmen bedienen. Mit etwas Aufwand ließen sich etwa leicht Filmprotokolle finden, sodass man sie nicht selbst erstellen müsse.
Nach einer kurzen systematischen Einführung, der sie die leicht handhabbare Systematik der Filmarten (nach Michael Sauer die Matrix mit den Unterscheidungen Quelle – Darstellung und dokumentarisch – fiktional) sowie die Korteschen Formen der Realität (Bezugs-, Bedingungs-, Film- und Wirkungsrealität) zugrunde legte, stellte sie hilfreiche Webseiten zur Informationsbeschaffung vor und warb nicht zuletzt für die belebende Wirkung des Filmeinsatzes im Geschichtsunterricht. Er sei dreierlei zugleich: Medienbildung, eine motivierende außergewöhnliche Quelle und er lehre das historische Denken, insbesondere im Bereich der Dekonstruktion. Sie erinnerte mit Siegfried Kracauer ferner an die Eigenschaft des Films, bei seinen Zuschauern unbewusste Aufnahmen zu bewirken und Tiefenschichten der Kollektivmentalität seiner Entstehungszeit zu transportieren.
Danach kam sie auf ihr eigentliches Thema zu sprechen. Zu Zeiten der SBZ/DDR produzierte die DEFA rund 1.000 Spielfilme, 820 Animationsfilme sowie 5.800 Dokumentarfilme und Wochenschauen. Sie tat dies seit ihrer Gründung 1946 unter staatlicher Kontrolle sowie mit politisch-propagandistischem Auftrag. Hierfür standen ihr Mittel in ausreichendem Maße zur Verfügung. Der Mehrwert der Analyse von DEFA-Filmen liege insofern im Nachweis ihrer Systemlegitimierung, aber auch in der Krise dieser Legitimation. Der Film galt als „treuer Helfer der Partei“ und sollte den „sozialistischen Menschen“ zeigen. Gab es hier in den ersten zwei Jahrzehnten noch gelegentlich Trendwenden in der Ausgestaltung staatlicher Einflussnahme, so wurden auf dem „Kahlschlag-Plenum“ der SED im Jahre 1965 die Restriktionen noch vermehrt. Eine ganze Jahresproduktion der DEFA wurde zurückgezogen. Seither standen die Richtlinien für die Filmschaffenden fest und wurden bis zum Ende der DDR kaum mehr verändert.
Möglichkeiten des Filmeinsatzes zeigte Heidi Martini in einem nachmittäglichen Workshop am Beispiel zweier DEFA-Filme, der „Spur der Steine“ (1966) und „Die Architekten“ (1989/90). Als besonders geeignet für DDR-Filme machte sie Methoden wie das „Zensorenspiel“ (Was hätten Zensoren gegen diese Szene einzuwenden?) sowie das systemkonforme Umschreiben von kritisierten Filmszenen (insbesondere in „Die Spur der Steine“) aus. Hinzu komme der Abgleich mit dem historischen Kontext, die Herausarbeitung des politischen Standpunkts sowie das Verfassen von Filmkritiken durch die Schülerinnen und Schüler. Aber auch Analysen von Standbildern (Ulbricht-Porträt an der Wand) können gelegentlich ertragreich sein. Deutlich wurde in der exemplarischen Analyse und Besprechung kurzer Sequenzen aus den genannten Filmen jedenfalls, dass es zum gewinnbringenden Einsatz keineswegs einer umfänglichen filmästhetischen Expertise des Unterrichtenden bedarf, sondern dass die üblichen Verfahrensweisen der Quellenanalyse ausreichen. Das nähere Eingehen auf Kriterien der Filmrealität (Schnitt, Kameraführung, Licht, etc.) sei möglich, aber nicht Bedingung für erfolg- und ertragreichen Unterricht.
Im zweiten Hauptvortrag des Vormittags widmete sich Dr. Peter Ulrich Weiß (Potsdam) dem Thema „Revolution und Transformation – die DDR und Rumänien im Vergleich“. Dabei konzentrierte er sich auf die Frage, warum es in der DDR zur weidlich beschworenen friedlichen Revolution gekommen sei, während der Sturz Ceauşescus sowie die folgenden Monate des Umbruchs in Rumänien von erheblichen Gewaltexzessen begleitet wurde. Bis heute sei die Erinnerung an die Ereignisse des Jahres 1989 in Rumänien höchst umstritten, während sie in Deutschland intensiv rekonstruiert und diskutiert worden sei.
Im Umfeld des 40. Jahrestages der DDR-Staatsgründung am 7. Oktober 1989 gab es in der DDR mehr als 3.300 Festnahmen. Die Revolution verlief daher zwar nicht gewaltlos, aber die Gewalt habe das Bild der Ereignisse nicht geprägt. Die Friedlichkeit sei umso erklärungsbedürftiger, als rund eine Million Mann unter Waffen standen, um das System ggf. mit Gewalt zu verteidigen. Warum rissen sie das Ruder nicht herum, obwohl solche Großeinsätze regelmäßig geübt worden waren und Isolierungslager für 10.000 Personen zur Verfügung standen? Weiß machte als entscheidenden Moment der Veränderung die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig aus. Dort fehlten Anweisungen für die Einsatzkräfte zuzuschlagen. Kurz vor dem Beginn der Montagsdemonstration gab es einen Appell zum Gewaltverzicht, der von einem großen Personenkreis, darunter auch SED-Funktionäre, unterzeichnet worden war. Eine besondere Rolle kam der Kirche zu, die viel Erfahrung im Ausgleich unterschiedlicher Positionen besaß. Die Protagonisten der friedlichen Revolution setzte sich somit offensiv vom „Rowdytum“ ab und gingen sogenannte Sicherheitspartnerschaften ein. Damit wurde der Volkspolizei eine Art Beschützerrolle aufgezwungen. Am 11.10. unterbreitete das Politbüro eine Dialog-Offerte. Seit dem 18.10. (Sturz Honeckers) war die Gefahr einer gewaltsamen Niederschlagung endgültig gebannt. Dass die SED sich nicht der Gewaltoption durchringen konnte, dokumentiert ihren inneren Erosionsprozess; viele Mitglieder hatten den Glauben an die Parteidoktrin verloren. Insbesondere die jüngeren SED-Funktionäre, die die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus in der Weimarer Republik nicht mehr erlebt hatten, waren der Gewalt abgeneigt. Die Beispiele Polen (die Ereignisse um die Verhängung des Kriegsrechts 1981-1983) und die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung in China im Juni 1989 zeigten ferner, dass Gewalt zwangsläufig zu westlichen Sanktionen führen würde. Die konnte sich die SED angesichts der desolaten ökonomischen Situation der DDR nicht leisten. Die Aufgabe der Breschnew-Doktrin durch Michail Gorbatschow entzog der Gewalt eine weitere Grundlage. Die Protagonisten der Revolution wiederum kamen den Herrschenden insofern entgegen, als sie sich zunächst für eine Reform des Sozialismus einsetzten, also moderate Forderungen stellten. Damit war der Staatsführung die Möglichkeit genommen, ihre Gegner zu kriminalisieren. Kurzum, überlieferte Überzeugungen verloren für die Chefetagen der Politik an Überzeugungskraft. Die schnelle Besetzung der Stasi-Zentralen im weiteren Verlauf der Ereignisse entzog möglichen Gegenmaßnahmen weiteren Boden.
In Rumänien lagen die Dinge anders. Gewalt war dort ein tradiertes Erfolgsmodell der rumänischen Eliten. Auch ohne kausale Zwangsläufigkeit sprachen zu viele Fakten für die Gewaltoption. Zahlreiche Schießbefehle kursierten – nicht zuletzt, weil Nicolae Ceauşescu ein Fanatiker der Macht war, die er nicht kampflos aufzugeben dachte. Auch das Ausland zog die Gewaltsamkeit der Ereignisse in Rumänien von Anfang an ins Kalkül und gab den Akteuren damit eine zusätzliche Legitimation. Die revolutionären Ereignisse spielten sich zu großen Teilen in den Fernsehsendern ab. Es kursierten viele Gerüchte und sorgten für Panik. Die rumänische Gesellschaft war in den Jahrzehnten zuvor radikal und gewaltsam umgestaltet worden. Die Sowjetisierung der fünfziger und sechziger Jahre waren von einer Terrorperiode mit einem GULag-System und perfiden Foltermethoden begleitet. 200-300.000 Menschen waren ihr zum Opfer gefallen Es gab daher keine Opposition, die Kirche besaß nicht die exponierte Rolle, die ihr in der DDR zukam. Das Land war bis 1989 de facto eine stalinistische Diktatur. Einzelpersönlichkeiten mit moralischer Autorität, Bürgerrechtler gar, fehlten völlig. Die rumänische Staatswirtschaft war restlos ruiniert, weil Ceauşescu die Begleichung der Auslandsschulden als oberstes Ziel ausgegeben hatte. Bespitzelung fand allerorten statt, hinzu kam der Securitate-Terror. Die rumänische Gesellschaft war somit materiell wie moralisch verelendet. Daraus war ein enormes Hasspotenzial erwachsen – und dieses Potenzial entlud sich hauptsächlich nach Ceauşescus Tod: Waren vor dem 25.12.1989 162 Menschen ums Leben gekommen, kamen in den Folgemonaten weitere 900 dazu. Der Höhepunkt der Gewalt richtete sich paradoxerweise im Juni 1990 gegen die Gegner der Reformkommunisten. Als deren Gegner in Bukarest für eine Weiterführung der Revolution des Dezember 1989 demonstrierten und eine kommunismusfreie Zone deklarierten, ließ Staatschef Ion Iliescu, der Nachfolger Ceauşescus, desinformierte Bergleute aus dem Schil-Tal nach Bukarest bringen. Ihnen hatte man erzählt, die Demonstranten würden die Revolution gefährden. Sie machten sich umgehend ans Werk. Sechs Menschen starben im Rahmen der „Mineriade“, mehr als 100 wurden verletzt. Diese Ereignisse markierten das Ende der revolutionären Ereignisse. Gewonnen hatten die Reformkommunisten unter Iliescu. Sie profitierten von einer großen Unübersichtlichkeit des Parteienlagers und regieren Rumänien als Partei PSD bis heute in paternalistischer Weise.
In Rumänien sei bis heute erinnerungskulturell umstritten, ob 1989/90 eine Volksrevolution oder ein postkommunistischer Staatsstreich stattgefunden habe. Die Polarisierung der Gesellschaft in Antikommunisten und neue Funktionärsriege zeige sich in einer doppelten Erinnerungskultur ohne seriöse historische Aufarbeitung. Das Revolutionsdenkmal wurde ausgerechnet an dem Ort errichtet, an dem die antikommunistische Bewegung in Bukarest scheiterte. Daher herrscht vielfach die Ansicht vor, Iliescu habe sich hier selbst ein Denkmal gesetzt.
In Ostdeutschland verloren die Protagonisten der friedlichen Revolution schon bei den freien Volkskammerwahlen im März 1990 jeglichen politischen Einfluss. Im Vordergrund des Einigungsprozesses stand seither die wirtschaftliche Transformation der DDR.
In einem Kurzvortrag stellte Dr. Eva Schöck-Quinteros (Bremen) das Theaterprojekt „Aus den Akten auf die Bühne“ vor, das sie vor rund 15 Jahren aus der Taufe gehoben hat. Mitglieder des Ensembles der Shakespeare-Company lesen aus Originalquellen des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen dabei Migration und Flucht, doch ist im Laufe der Jahre eine Reise durch das 20. Jahrhundert entstanden. Archivalien werden aufbereitet und vom Dramaturgen Peter Lüchinger für eine zweistündige Lesung gekürzt. (Aus 1.000 Archivseiten werden so bisweilen 40.) Dabei bleibt die Sprache der Quellen jedoch erhalten; hinzu kommt deren Interpretation durch die (vom Blatt) rezitierenden Schauspieler als „Hyperhistoriker“. Außerhalb Bremens kommt die Shakespeare Company dank der Unterstützung durch die Stiftung die schwelle mit einem Programm der Reihe auch in die Schulen. Die Dauer des Programms, das aus einer Lesung und anschließender Quellenarbeit mit den Lerngruppen besteht, ist verhandelbar.
Weitere Workshops des Nachmittags waren eine Stadtführung sowie eine Führung durch das Bremer Geschichtenhaus im Schnoor. Der Workshop im Geschichtenhaus, dem Haus für „lebendige“ Geschichte, wie es sich selbst versteht, begann mit einer Führung durch das 17. Jahrhundert bremischer Geschichte, einem Streifzug von der Erlangung der Reichsunmittelbarkeit über den Dombrand und die Pest bis zur Schifffahrt. Anschließend legte die Betriebsleiterin Sara Fruchtmann das Konzept des Hauses im Rahmen der Berufsqualifikation dar und stellte die vielfältigen pädagogischen Angebote des Hauses für Schulklassen sämtlicher Jahrgangsstufen vor. Alle Workshops waren von den Teilnehmern in etwa gleichmäßig angewählt worden.
Am späten Nachmittag entließ dann das Tagungsprogramm die mit zahlreichen Anregungen versehenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer in die sommerliche Hitze.
Johannes Heinßen
Programm:
9.00 Uhr: Eintreffen, Kaffee
9.30 Uhr: Begrüßung
9.45-11.00 Uhr
Dr. Heidi Martini (Hamburg):
DDR-Film zwischen Systemkritik und Untergang – Analysebeispiele und Einsatzmöglichkeiten im Unterricht
11.00-11.15 Uhr
Pause
11.15-11.45 Uhr
Aus den Akten auf die Bühne.
Vorstellung eines Theaterprojekts (bremer shakespeare company/Universität Bremen)
11.45-13.00 Uhr
Dr. Peter Ulrich Weiß (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam):
Revolution und Transformation – die DDR und Rumänien im Vergleich
13.30-14.30 Uhr
Mittagspause
14.30-16.00 Uhr
Parallele Workshops:
- Stadtführung Bremen
- Workshop zum Vortrag (Dr. Martini)
- Das Bremer Geschichtenhaus im Schnoor