NGLV ab 2022 4 zu 3

Frühjahrstagung des NGLV in Göttingen, 15.6.2023, Bericht

Mit der Frühjahrstagung 2023 begab sich der NGLV in mehrfacher Hinsicht auf Neuland. Das galt zum einen für Göttingen, das seit Jahrzehnten nicht mehr Tagungsort gewesen war. Dort hatte unsere Regionalvertreterin Katharina Runkel in ihre Neue IGS eingeladen, deren Leitung sie seit dem letzten Jahr innehat. Mit dem Oberstufentrakt stand den rund 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine komfortable Tagungsumgebung zur Verfügung, die durch das leckere Catering der Schülerfirma noch aufgewertet wurde. Organisiert worden war die Tagung im Wesentlichen von unserer Schriftführerin Dr. Christina Kakridi (OHG Göttingen). Thematisch ging es zum einen – wieder einmal – um das Fach Gesellschaftslehre in IGSen mit seinen Chancen und Herausforderungen, zum anderen um den sprachsensiblen Geschichtsunterricht.

Christina Kakridi begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einer kleinen Einführung in das Thema. Sie verwies auf die Probleme der fachdidaktischen Anbindung des Faches Gesellschaftslehre, für das es ungeachtet des Göttinger Schlözer-Programms insgesamt noch keine universitäre Ausbildung in Gestalt eines Bezugsfaches gebe. Herausfordernd sei ferner der Übergang aus dem Gesellschaftslehre- in den Geschichtsunterricht der gymnasialen Oberstufe.

Anstelle der erkrankten Nikola Forwergk übernahm Katharina Runkel selbst den ersten Vortrag und berichtete am Beispiel eines fachübergreifenden Projekts über Chancen und Herausforderungen des Gesellschaftslehreunterrichts. Das Fach gibt es in Deutschland seit 50 Jahren. Rund 24% aller Schülerinnen und Schüler werden im Aufgabenfeld B in einem Integrationsfach unterrichtet. Ausgangspunkt der exemplarisch vorgestellten Einheit war die Geschichte eines Schülers afrikanischer Herkunft, die einen narrativen Zugang bot, um die Probleme Afrikas entlang der Kategorien Raum, Zeit und Struktur vielfach vernetzt zu rekonstruieren. So wurde es möglich, das historische Lernen perspektivisch zu erweitern und die übliche Perspektive, Globalgeschichte über das Konzept der europäischen Expansion zu betreiben, durch eine wirklich globale Herangehensweise zu ersetzen. Innerhalb des fächerverbindenden Zugriffs beschrieb sie Möglichkeiten der Differenzierung und Individualisierung für die heterogene Schülerschaft einer IGS, verschwieg aber auch nicht die organisatorisch-didaktischen Herausforderungen: den Umgang und die Aneignung fachfremder Inhalte, die eingeschränkte Nutzbarkeit vorhandener Lehrwerke, den Umgang mit der Heterogenität der Lernenden, zu der noch das aufwändige Format der Leistungsüberprüfungen tritt, und, aus all dem resultierend, die beschränkte Zeit zur inhaltlichen Auseinandersetzung auf Seiten der Lehrkräfte. Am Ende müssen die Leistungen der Lernenden dann noch auf unterschiedlichen Niveaus bewertet werden. Vorteile dieser Art der Unterrichtsgestaltung erkannte Frau Runkel im vernetzten Denken, das reale Problemlagen in ihrer Komplexität entfaltet und nicht an den Grenzen traditioneller Schulfächer enden lässt, in der breit angelegten Wissenserweiterung, in einer höheren Motivation der Schülerinnen und Schüler, in der Möglichkeit, auf jedem Lernniveau alle Anforderungsbereiche auszugestalten und in den sich ergebenden Synergieeffekten.
Dass ein solches anspruchsvolles Vorhaben gelingen kann, sah sie von mehreren Bedingungen abhängig: hinreichend Zeit für die Planungen, Arbeit in multidisziplinären Teams, eine sinnvolle Reduktion der Themen, die Ermittlung von Leitfragen aus Schülerperspektive, planerische Freiheit bei der Vernetzung der Fachinhalte – hier müsse man sich zur Not auch einmal über die KC-Vorgaben hinwegsetzen dürfen – sowie besser differenzierende, komplexere Lernoperationen ermöglichende Lehrwerke.
Insgesamt könnten in dieser projektartigen Vorgehensweise neue Basisnarrative entwickelt werden und traditionelle didaktische und inhaltliche Strukturen – etwa die Betrachtung Afrikas nur im Zeitalter des Imperialismus – überwunden werden. Dafür sei es aber wünschenswert, eine Didaktik des Faches zu etablieren und Gesellschaftslehre auch in der Lehrerausbildung zu verankern.

Das Thema „Sprachsensibler Geschichtsunterricht“ hat innerhalb der Geschichtsdidaktik an Universität und Schule zurzeit zweifellos Hochkonjunktur. Das liegt nicht nur am Konstruktivismus als Leitfaden der heutigen Geisteswissenschaften, sondern vor allem an den praktischen Problemlagen im pädagogischen Alltag, in dem immer deutlicher wird, dass die Lernenden nicht über das sprachliche Rüstzeug verfügen, um sich innerhalb der fachlichen Dimensionen intellektuell adäquat und konstruktiv zu bewegen. Immer öfter ähneln Geschichts- eher Deutschstunden, in denen zunächst einmal Spracherwerb, z. B. in Gestalt von fach-, aber auch allgemeinsprachlichen Glossaren und einem entsprechenden Scaffolding stattfinden muss, bevor man sich den eigentlichen Gegenständen zuwenden kann. Was sind hier die Propria des Faches Geschichte, welche sprachlichen Strukturen sind grundlegend? Der Vortrag von Professorin Dr. Saskia Handro (Münster) entfaltete das Thema und ließ deutlich werden, dass es auch hier wiederum komplex zugeht. Denn Sprachsensibilität kann sich auf vieles beziehen: auf Lexik, auf Logik, auf Gattungsbegriffe oder auch das Verstehen didaktischer Texte insgesamt. Ganz abgesehen von den Quellen und ihrer vielfach fremden Sprachlichkeit machen es bereits die vorhandenen Lehrbuchtexte den Lernenden nicht leicht. Sie sind gekennzeichnet durch einen hohe Informationsdichte, wenig Wiedererkennbarkeit (Wiederaufgreifen von bereits Behandeltem) und sie variieren in ihren Textstrukturen beträchtlich. Daher sei ein strategischer Umgang mit diesen Texten erforderlich. Untersuchungen zeigten, dass Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Konzepte zum Verstehen dieser Texte nutzten. Der Schritt vom rein rezeptiven Verstehen zu eigenem komplexen Sprachhandeln sei sehr groß. Hierzu bedürfe es einer neuen, intensiveren Feedbackkultur.
Die Sprache der einzelnen Fächer sei deren geheimes Curriculum. Im Unterricht trete sprachliches Handeln in vier verschiedenen Funktionen auf: der kommunikativen, der sozial-symbolischen, der kognitiv-epistemischen und der evaluativ-diagnostischen Funktion. Um Sprache bewusst zu schulen, sei ein Prozessmodell der didaktischen Funktionen des historischen Erzählens erforderlich. Am Beispiel des Leserbriefs, der derzeit einzigen Gattung für mögliche produktionsorientierte Aufgabenformate im Zentralabitur, erläuterte Handro die Schwierigkeiten eines sprachlich wenig sensiblen Vorgehens: Die Gattung Leserbrief mit ihrer kommunikativen Funktion sowie ihren sprachlichen Merkmalen sei den Lernenden aus ihrem Alltag nicht vertraut. Textsorten ermöglichen oder verhindern insofern sprachliche Denkleistungen. Auch das niedersächsische Kerncurriculum sah sie ungeachtet der eigens ausgewiesenen Sachkompetenz, die zwar eine „Grammatik historischen Denkens“ zu formulieren versuche, als erläuterungsbedürftig an. Kurzum, der Fachunterricht setze zwar bildungssprachliche Kompetenz voraus, fördere sie aber nicht. Diese Sprachbarriere werde traditionell nur unzureichend reflektiert. Sprache stelle insofern so etwas wie ein geheimes Curriculum dar. Lese- und Schreibstrategien würden zu wenig genutzt.
Wie aber könnten Lese- und Schreibprozesse angeleitet werden? Handro formuliert hierfür folgende Prinzipien:

  • Schreiborientierung: Fachliche Kompetenzen können durch fachsprachliche Schreibprozesse gefördert werden.
  • Es sollte eine strategieorientierte Leseprozesssteuerung stattfinden. Fachlich angemessenes Textverstehen wird durch den Erwerb hilfreicher Strategien wie des Formulierens von Hypothesen, der Strukturierung des Textes oder der Textkritik, die zunehmend eigenständig eingesetzt werden, gefördert.
  • Mit dem Prinzip des Scaffoldings werden vorübergehend sprachliche Gerüste für die je unterschiedlichen methodischen Fertigkeiten bereitgestellt, deren Gebrauch sich sukzessive verselbständigen soll.
  • Die Schreibprodukte und der an ihnen erfolgende Lernprozess sollte einer Metakognition unterworfen werden.
  • Schließlich sei Differenzierung unabdingbar.

In den nachmittäglichen Workshops vertieften Prof. Handro und Dr. Viola Schrader Aspekte des sprachsensiblen Geschichtsunterrichts anhand der Themen „Unterrichtsgespräche“ und „Quellen interpretieren“.

Auf der Homepage der Universität Münster finden sich umfangreiche Unterlagen aus einem Lehrerfortbildungsprogramm des Landes NRW, die mögliche Zugriffe und Vorgehensweisen anschaulich skizzieren:

www.uni-muenster.de/imperia/md/content/geschichte/didaktik/qualis_m_moderationshandbuch.pdf (Moderationshandbuch für die Module)

https://www.uni-muenster.de/Geschichte/hist-dida/lehrerfortbildungen/sprachsensiblergeschichtsunterricht/sprachsensiblergeschichtsunterricht.html (einzelne Module; Steckbrief, Präsentation, Materialien).

Für den Download: Benutzername: Lehrkraft1, Password: FortbildungSGU.

Kurzfristig bot Sascha Rudat (Neue IGS Göttingen) einen dritten Workshop zum Thema „Differenzierung im Geschichtsunterricht“ an, in dem er die Differenzierungsmatrix nach Ada Sasse und ihre Anwendungsmöglichkeiten vorstellte. Die Matrix sieht auf der x-Achse eine Steigerung der thematischen und auf der y-Achse eine Steigerung der kognitiven Komplexität vor. So kann man auf verschiedenen Anspruchsniveaus von der konkreten Handlung zur theoretischen Abstraktion vorstoßen. Zugleich bietet die Matrix Möglichkeiten der Graduierung von Unterrichtsinhalten und der zu erwerbenden Kompetenzen, womit sich der Geschichtsunterricht bisher traditionell eher schwertut. Eine Fülle von Materialien findet man hierzu auf der Seite der Thüringer Forschungs- und Arbeitsstelle für inklusive Bildung: http://www.gu-thue.de/matrix.htm.

 

Programm:

9.00 – 9.30 Uhr:
Ankunft

9.30 – 9.45 Uhr:
Begrüßung

9.45-11.00 Uhr:
Nikola Forwergk (Göttingen)
Gesellschaftslehre unterrichten

11.15 – 12.30 Uhr:
Prof. Dr. Saskia Handro (Münster)
Sprache im Geschichtsunterricht

12.30 – 14.00 Uhr:
Mittagspause

14.00 – 15.30 Uhr:
Parallele Workshops zum Thema „Sprachsensibler Geschichtsunterricht“:

I: Prof. Dr. Saskia Handro: Unterrichtsgespräche

II: Dr. Viola Schrader (Münster): Textquellen interpretieren

Anmeldungen richten Sie bitte bis spätestens 9.6.2023 per Mail an Frau Hoops in unserer Geschäftsstelle: Geschaeftsfuehrung.nglv@web.de. Die Anmeldungen werden in der Reihenfolge ihres Eingangs entgegengenommen. Falls Sie nach erfolgter Anmeldung nicht teilnehmen können, bitten wir Sie, sich wieder abzumelden, damit Ihr Platz für eine andere Kollegin/einen anderen Kollegen frei wird. Reisen Sie bitte nicht ohne vorherige Anmeldung an.

Sofern Sie sich bereits entschieden haben, geben Sie bitte auch die Nummer des Workshops an, an dem Sie teilnehmen möchten.

Die Tagungsgebühr beträgt 10,- € (Referendare 5,- €).

Für Mitglieder des NGLV ist die Teilnahme wie immer kostenlos.