NGLV ab 2022 4 zu 3

Herbsttagung des NGLV, Hannover, 29.10.2024, Bericht

Gemessen an den Schwierigkeiten, mit denen der Lokführerstreik die letztjährige Herbsttagung im November 2023 belastet hatte, verlief die diesjährige Herbsttagung erfreulich reibungslos. Das Programm stieß auf großes Interesse: Zum ersten Mal seit Jahren war die Tagung mit 140 Teilnehmenden ausgebucht. Das dürfte vor allem an den Referenten des Vormittags und ihren Themen gelegen haben. Zuvor begrüßte der NGLV-Vorsitzende Johannes Heinßen das Publikum, zur Hälfte Mitglieder, zur Hälfte (Noch-)Nichtmitglieder und gab einen kurzen Überblick über die Situation des Geschichtsunterrichts, der zurzeit zwar wenig von Eingriffen seitens der Kultuspolitik herausgefordert werde, sich aber von der dramatischen Verschärfung vielschichtiger globaler Probleme unter Handlungsdruck gesetzt sehe.

Einen Beitrag zum Verständnis aktueller Verwerfungen können auch die aktuellen bzw. anstehenden Semesterthemen der niedersächsischen Qualifikationsphase leisten, zu denen die Referenten der Plenumsvorträge sprachen. Zur Einstimmung auf das Thema „Der Erste Weltkrieg“ stand mit Professor Dr. Alan Kramer (Dublin/Hamburg) ein führender Vertreter der jüngeren Weltkriegsforschung bereit, um einen Überblick über deren Erträge zu geben und ein Panorama aktueller Fragestellungen und Erkenntnisse zu entwerfen.
Kramer erkannte ein neues Interesse am Ersten Weltkrieg, das aus den Bedrohungsszenarien der Gegenwart hervorgehe. Dabei habe sich die Forschung mehr und mehr auf transnationale Fragestellungen verlagert, die in neueren Museen wie dem in Ypern auch Berücksichtigung fänden. In Deutschland mangele es indes noch an praktischen Umsetzungen; hier sei die Forschungsgeschichte des Ersten Weltkriegs von der Fokussierung auf die Fragen nach der Kriegsschuld sowie der Kontinuität zum Zweiten Weltkrieg bestimmt und auf diese Weise verengt worden. Darauf weise noch die große Resonanz von Christopher Clarks Schlafwandlern hin, dessen Thesen in Deutschland als Exkulpation von deutscher Kriegsschuld verstanden worden seien. Die Erinnerungskultur hänge insofern der Forschung deutlich hinterher.
Kramer stellte zunächst eine Reihe von Synthesen und Nachschlagewerken vor. Der von Christoph Cornelißen und Arndt Weinrich herausgegebene Band Writing the Great War (freier Download) rekonstruiert die nationalen Rezeptionsgeschichten des Krieges. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland sei von der an den Zweiten fast vollständig überlagert worden – ganz anders in Frankreich und Großbritannien, wo sie immer präsent geblieben sei. Auch die Militärgeschichte sei dort nie in Vergessenheit geraten. Herfried Münklers Monographie Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918 sei ein flüssig geschriebenes, thesenfreudiges Werk, dem es angesichts vieler sachlicher Fehler aber an wissenschaftlicher Zuverlässigkeit mangele. Die globale Perspektive werde nur am Rande behandelt. Umso mehr handele das Buch von deutschnationalen Mythen und nehme daher anstelle einer transnationalen eine provinziell deutsche Perspektive ein: Münkler wisse, wie man hätte siegen können.
Aus historischer Sicht exzellent sei hingegen Jörn Leonhards Synthese Die Büchse der Pandora. Sie greife auch kaum erforschte Themen wie die Deportationen im Gefolge des Krieges oder die unterschiedliche Besatzungspolitik der Mächte auf. Für Lehrkräfte sei das Werk aufgrund seines Umfangs natürlich problematisch, sei aber sehr lebendig geschrieben und lese sich entsprechend gut.
Deutlich knapper, aber ebenfalls sehr nützlich sei Oliver Janz’ Monographie 14 – Der Große Krieg (noch bei der bpb erhältlich), die immer wieder die Perspektive einzelner Menschen einarbeite und systematische Vergleiche in globaler Perspektive vornehme.
Einen globalen Anspruch verfolge auch die von Kramer mitherausgegebene Online-Enzyklopädie 1914-1918, die mittlerweile rund 1.600 Artikel von rund 1.000 Autoren versammele. Der wissenschaftliche Standard werde durch ein Peer-Review-Verfahren gewährleistet. Sie sei weitgehend auf der Höhe der Forschung.
Die hauptsächliche Innovation der letzten Jahrzehnte sei von der neuen Kulturgeschichte ausgegangen. In seinem Buch Sites of Memory. Sites of Mourning über die europäische Erinnerungs- und Trauerkultur bezog Jay Winter 1998 auch die Perspektive einzelner Soldaten ein. Sein Buch weitet den Gegenstandsbereich von Reinhart Kosellecks Forschungen zu den deutschen Kriegerdenkmälern auf ganz Europa aus. Wie die deutsche Gesellschaft den Krieg erlebte, haben Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich in zahlreichen Schriften herausgearbeitet und dabei erstmals auch die Somme-Schlacht 1916, der in Großbritannien eine zentrale Rolle in der Erinnerung zukommt, aus deutscher Sicht in den Blick genommen. In Großbritannien galt dem Narrativ des futile war („lions led by donkeys“) ein überragendes Interesse. Die These von der Unfähigkeit der britischen Generalität werde neuerdings in Frage gestellt und deren Innovationsbereitschaft betont. In Deutschland sind inzwischen vereinzelte Publikationen zur technologischen Entwicklung im Krieg erschienen. Eine Hauptreferenz für die Militär- und Kulturgeschichte seien Forschungen von Benjamin Ziemann. Ziemann habe zusammen mit Bernd Ulrich einen hervorragenden, gut kommentierten Quellenband zum Frontalltag im Ersten Weltkrieg herausgegeben. Die deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich, denen rund 6.000 Zivilisten zum Opfer gefallen seien, seien von Alan Kramer und John Horne aufgearbeitet worden, nachdem just der pazifistische Diskurs nach 1918 sie als alliierte Gräuelmythen deklariert habe und sie so in Vergessenheit geraten seien. Dass es diese Massaker allerdings gab, lasse sich auch aus der deutschen Gegenüberlieferung erschließen. Sie erfolgten in einer Vorstellungswelt, die aus der hohen Nervenanspannung im Aufenthalt der Soldaten im Ausland, den enorm hohen Verlusten der ersten Kriegsmonate sowie der Erschöpfung und Ungeduld über das Scheitern des Schlieffenplans entstanden sei. Das Werk sei in der Wissenschaft heute als Standardwerk anerkannt und werde nur von nationalkonservativen Amateurhistorikern bekämpft.
Zunehmend diskutiere man die Totalisierung des Krieges. Anstelle von Enzo Traversos These vom europäischen Bürgerkrieg, die den Krieg als quasi innerstaatlichen europäischen Konflikt interpretiere, erkenne man heute im Kriegsgeschehen eher einen Krieg zwischen verschiedenen Imperien. Hans-Ulrich Wehlers Kontinuitätsthese zum Zweiten Weltkrieg fasse die Diskontinuitäten zu wenig ins Auge. Arbeiten über das deutsche Okkupationssystem in Litauen, das auf Ressourcennutzung und Zwangsarbeit gesetzt habe, sodass die deutsche Besatzung eine Militärkolone errichtet habe, würden die dort praktizierte Politik als Weg zur Annexion beschreiben. Glimpflicher gingen die Deutschen mit den Polen um, die 1916 ein eigenes Königreich von deutschen Gnaden erhielten. Insofern unterschied sich die deutsche Polenpolitik im Ersten Weltkrieg grundlegend von der der Jahre nach 1939. Auch in Osteuropa sei die Tendenz zum totalen Krieg nachweisbar, etwa an den Deportation ethnischer Minderheiten im Zarenreich.
In einer globalen Perspektive sei zu beklagen, dass der Krieg zu oft auf das Geschehen an der Westfront reduziert werde. Der Erste Weltkrieg sei von Anfang an ein globaler Krieg gewesen, dem allein in Deutsch-Ostafrika ca. 650.000 Menschen zum Opfer gefallen seien, weil die europäischen Mächte die dortigen Ressourcen rücksichtslos ausbeuteten und die Bevölkerung unter Kampfhandlungen litt. Auch der Nahe Osten sei stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Überall im Osmanischen Reich habe Hunger geherrscht. Er war teils das Ergebnis der alliierten Seeblockade, teils aber auch Folge der antiarabischen und antichristlichen Politik der osmanischen Regierung. Das sei heute, auch in betroffenen Ländern, fast völlig vergessen. Dabei böten sich diese Themen in der Schule angesichts der vielfältigen Migrationshintergründe der Schülerschaft an. Das Deutsche Reich habe aktiv versucht, den Krieg zu globalisieren, etwa durch den Aufruf zum Jihad oder Wilhelms II. Selbsternennung zum Beschützer der Muslime. Aufstände gegen die Kolonialmächte habe es in Mexiko und Afghanistan gegeben. Nach dem Krieg hätten weitere Aufstände begonnen, z. B. in Indochina oder der Aufstand gegen die Italiener in Libyen – die Dekolonialisierung begann aber nicht erst 1918. Dabei hatten Wilsons 14 Punkte auch Einfluss auf koloniale Befreiungsbewegungen, für die sie gar nicht gedacht waren. Im Osmanischen Reich deutete man den Kriegsverlauf als Aggression der christlichen Mächte gegen den Islam und beförderte damit die Umwandlung des Reiches zu einem ethnisch-türkischen Nationalstaat – mit den bekannten verheerenden Folgen für die Armenier oder die Griechen an der Ostküste der Ägäis.
Deutschlands Revolutionierungsstrategie in Russland war erfolgreich: Lenins legendäre Durchreise 1917 und anschließende Goldlieferungen für die Bolschewiki sollten die Entente zertrümmern. Der Vertrag von Brest-Litowsk entwarf eine deutsche Traumherrschaft über Europa. Sie war eine fatale Chimäre, die sich 20 Jahre später wiederholen sollte.
Die Osteuropaforschung habe zuletzt herausragende Fortschritte gemacht, insbesondere durch die bei der WBG erschienene zweibändige Monographie Der vergessene Krieg. Europas Osten 1912–1923 von Włodzimierz Borodziej und Maciej Górny. In Osteuropa endete der Krieg wie in weiten Teilen der Welt nicht mit den Pariser Vorortverträgen. Die Vernichtung der unabhängigen Ukraine durch die Bolschewiki oder die sowjetische Invasion Polens waren Folgekonflikte im Rahmen der dort stattfindenden Nationalstaatsbildungen. Zunehmend hinterfrage die Forschung populäre Mythen nationalistischer Narrative. Der militärgeschichtliche Blick sei um die Dimensionen von Gesellschaft, Politik und Alltag der Menschen erweitert worden.
Seit Ute Daniel 1989 eine Geschichte der Frauen in Deutschland vorgelegt habe, sei nichts Umfassendes zur Geschichte der Frauen im Weltkrieg erschienen. Auf dem Gebiet der Alltagsgeschichte hingegen schon: Anna Roerkohl habe 1991 eine Studie zu Hungerblockade und Heimatfront am Beispiel Westfalens, Roger Chickering 2007 eine eingehende mikrohistorische Studie zu Freiburg im Breisgau vorgelegt. Die Heimatfront war vorwiegend weiblich. Eine Selbstmobilisierung der Frauen fand in Deutschland aber nicht statt; sie sei Teil des Mythos der Kriegsbegeisterung.
Seit den Siebzigerjahren habe die Wirtschafts- und Sozialgeschichte wenige Bearbeiter gefunden. Das von Marcel Boldorf herausgegebene Handbuch Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg ist 2020 erschienen. Herausgefunden habe man unterdessen, dass der Rückgang der Lebensmittelimporte nach Deutschland weniger stark als angenommen gewesen sei. Gravierender sei die Rohstoffblockade gewesen. Bei der Lebensmittelversorgung sei das Militär stets priorisiert worden. Deutschland habe es mangels Exporte der Unternehmen an Devisen gefehlt. Die Sterblichkeit der deutschen Zivilbevölkerung sei jedoch niedriger als in anderen Ländern gewesen. Deutschland habe also im Ganzen effektive Antworten auf die Blockade gefunden.
Forschungsthemen der Zukunft könnten die Staatsgründungen nach 1918 sowie humanitäre Interventionen sein. Viele NGOs haben nämlich ihren Ursprung im Ersten Weltkrieg. Ferner seien Studien über die Besatzungspolitik in Osteuropa und dem Nahen Osten Desiderate sowie die Geschichte der neutralen Länder.
Professor Kramer war so freundlich, uns eine Bibliographie der in seinem Vortrag besprochenen Literatur zur Verfügung zu stellen. Sie finden sie HIER.

Nachdem Professor Dr. Jörg Baberowski seinen Auftritt beim NGLV mehrfach hatte absagen müssen, war er nun endlich gekommen. Und Baberowski enttäuschte nicht: Er trug seine Sicht auf die Russische Revolution vor. Zuvor ging er kurz auf sein jüngst erschienenes neues Buch ein, das den Titel Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft in Russland trägt. Dieses ist keine Geschichte Russlands, sondern die Geschichte von Macht und Herrschaft in Russland. Es beantwortet die oft gestellte Frage, wie dieses Imperium trotz seiner schwachen Staatlichkeit so lange überdauern konnte. Warum hat die Sowjetunion überlebt? Warum hält etwas gegen alle Erwartungen zusammen?
Baberowski begann mit einer Dekonstruktion: Über Revolutionen dominierten Vorstellungen von ihrer segensreichen Wirkung. Die gegenwärtige Generation habe im Denken der Revolutionäre nicht das Recht, die zukünftige ihren Gesetzen zu unterwerfen. Was vorwärts gehe, habe das Recht auf seiner Seite. Sinnstiftende Begründungen kämen aber erst ins Spiel, wenn alles vorüber sei. Revolutionäre sprächen im Geschehen anders als danach. Tatsächlich sei eine Revolte nichts als eine Abfolge von Augenblicken. Das Ziel der Akteure sei im Moment des Handelns, etwas in die Welt zu setzen, das man nicht ignorieren kann. Historiker ordneten diese Augenblicke auf einer Kette an. Die siegreiche Revolution brauche den Mythos, denn Revolutionäre müssten sich legitimieren, nachdem sie das Recht gebrochen hätten. So laufe es oft auf eine Geschichte folgender Art hinaus: Der exekutierte Ungehorsam sei ein breit unterstützter Volksaufstand gewesen, der notwendig so kommen musste. So verwandele sich die Verhaftung der Minister der Provisorischen Regierung im Oktober 1917 in einen Sturm oder eine religiöse Handlung. Faktisch ging die Verhaftung weitgehend unbemerkt vor sich.
Dennoch hätten Revolten einen Grund. Auslöser sei aber oft der Zufall und am Ende geschehe etwas. Baberowski machte sich dann daran, zu beschreiben, was die Akteure des Jahres 1917 taten. Wie konnte sich aus einer Brotrevolte ein Aufstand und aus einem Aufstand eine Revolution entwickeln? Bereits Lenin vertrat die Auffassung, das Volk könne nicht handeln, sondern nur Einzelne, die entschlossen seien. Die Vielen seien dies keineswegs. Wie konnte das Imperium in sechs Tagen verschwinden?
Kontext der Revolution seien die globalen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges. Da der Krieg auf dem Territorium Russlands stattfand, wurde das Territorium westlich des Dnjepr der Militärverwaltung unterstellt – Russland wurde also in großen Teilen vom Militär regiert. Das war eine fatale Entscheidung, denn die Generale entschieden eigenständig, aus den Provinzen vermeintlich feindliche Kollektive zu deportieren. Das funktionierte auf erschreckende Weise gut. Mit dieser Erfahrung habe der bolschewistische Terror viel zu tun: Ethnische Kollektive konnte man stigmatisieren, diffamieren oder deportieren. Die Deportierten reproduzierten die Probleme noch einmal in ihren Zielgebieten. Russland wies damals ca. 15-16 Mio. Binnenflüchtlinge auf. An der Ostfront habe es ethnische Säuberungen, Pogrome und ein Massensterben gegeben. Sie war ein Übungsplatz für Völkerverschieber auf dem Territorium des Zarenreichs. Diese Idee setzte sich bei Linken und Rechten in den Köpfen fest. Die Revolution ereignete sich insofern in einem vom Krieg geprägten Kontext.
Die Revolution von 1917 war ferner eine Soldatenrevolution, keinesfalls hingegen vom Proletariat getragen; denn dieses war im Krieg privilegiert, weil Arbeiter nicht eingezogen wurden. Fatal wirkte sich dabei aus, dass man seit 1915 Soldaten in den großen Städten einquartierte. So lebten seither rund 200.000 Soldaten in den Kasernen in Petrograd. Sie kamen alle aus den Dörfern, aus denen sie ihre Lebensform mitbrachten. Hinzu kamen eine Hyperinflation, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und der Zusammenbruch des Verkehrssystems, weil die schlechten Schienenwege nicht mehr funktionierten. Im Februar 1917 blockierte ein gigantischer Schneefall die wenigen funktionsfähigen Linien aus der Ukraine. Dies löste eine Versorgungskrise aus.
So begannen die Ereignisse am 23.2.1917 mit einer Brotrevolte. Die Frauen der Vorarbeiter strömen ins Zentrum, um Brot zu fordern. Brotrevolten hatte es schon immer gegeben, sie waren ein bekanntes Phänomen. Aber diese Revolte ging nicht wie sonst üblich vorüber, denn am 24.2. schlossen sich die Arbeiter an. An diesem Tag trat auch die Duma wieder zusammen und die ganze Stadt war voller Oppositioneller. In der aufgeheizten Stimmung vergaß der Landwirtschaftsminister, Lebensmittelcoupons auszugeben, obwohl eigentlich Brot genug vorhanden war. Stattdessen breiteten sich Gerüchte aus, die die Menschen zum Horten von Brot und zur Plünderung der Bäckereien veranlassten. Weitere Massen drangen, von Gerüchten angetrieben, in die Stadt. Die Militärführung erwartete nun ein schnelles Ende durch einen Militäreinsatz. Aber die Kosaken griffen nicht mehr ein, sondern sie ließen sich anstecken. Kosakeneinheiten wurden von Demonstranten eingekreist und fanden in der Stadt keine freien Flächen für effektive Angriffe vor. Auf die Erteilung eines Schießbefehls wurde verzichtet, um den Alliierten keine Schreckensbilder zu liefern. Da die Arbeiter nachts in ihren Vororten und die Kosaken in ihren Kasernen waren, konnten die Aufmarschplätze der Demonstranten nicht kontrolliert werden. Am 26.2. gab der Innenminister schließlich einen Schießbefehl. Die Soldaten saßen aber seit November 1916 untätig in den Kasernen herum. Sie hatten kein Interesse, nach der Wiederherstellung der Ordnung in den Fronteinsatz geschickt zu werden. Außerdem identifizierten sie sich nicht mit der Polizei und ihrer Ordnungsfunktion. Dem Regime gelang es in dieser Situation nicht mehr, die Soldaten unter Kontrolle zu halten. Ganze Einheiten verweigerten sich. Dies führte zu einer ungeheuren Dynamik, in deren Verlauf Offiziere gelyncht wurden. Dabei kam zum Tragen, dass es seit der Westorientierung (nur) der Eliten Peters der Großen in Russland „zwei Nationen“ (Alexander Herzen) gab. Nun drehten die Soldaten-Bauern den Spieß um, um zu zeigen, dass sie jetzt die Herren auf der Straße waren. Der Umstand, dass mit Vorliebe Klaviere zerstört und aus den Fenstern geworfen wurden, zeigte ihren Hass auf die westlich inspirierte Elite. Erst am vierten Tag der Revolte begriff die Regierung, was los war. Diese verspätete Einsicht legte die unfassbare Isolierung der Elite offen.
Erst in dieser Situation des Kontrollverlusts kamen die Protagonisten der Revolution ins Spiel: Die Revolte kam aus den Kasernen und richtete sich gegen einen möglichen Fronteinsatz und gegen die Offiziere; ferner forderte man eine sichere Brotversorgung. Aber alle Beteiligten wussten: Dazu mussten sie das entstandene Chaos ordnen. Paradox war nun: Auch die Eliten der Linken und Liberalen hatten Angst vor dem Volk und waren insofern an einem Kompromiss interessiert. Niemand wünschte eine Revolution, schon gar nicht die Liberalen im Parlament, die etwa für ein Zensuswahlrecht plädieren. Schließlich nahmen Miljukow, der Fraktionsvorsitzende der Kadetten, und der Parlamentspräsident die Sache in die Hand. Allen war klar, dass Russland im Krieg war und das Imperium im Falle einer Niederlage zerfallen werde.
Am 22. Februar hatte Zar Nikolaus St. Petersburg verlassen und brauchte Tage, um zu realisieren, was geschah. Die zentrale Figur – das sei das Tragische – tat in dieser Situation nichts. Vielmehr puzzlete Nikolaus und ließ sich dabei ungern stören. Die Liberalen und die Regierung waren sich nun einig: Wenn er nicht handele, müsse er abdanken. Die Revolutionäre des Februar mussten jetzt ebenfalls handeln. Sie waren aber nicht die Freunde der Soldaten, sondern Anhänger des Krieges. Um die Revolution zu dämpfen, förderte die Duma die Gründung eines Arbeiter- und Soldatenrates. Dieser tagte im anderen Flügel des Taurischen Palais: rechts die Duma, links der AuS-Rat. Die Eliten waren nun erstmals mit Menschen konfrontiert, die sie noch nie gesehen hatte. Die Soldaten hatten Angst vor ihren Offizieren. Der AuS-Rat forderte die Abschaffung der Monarchie und einen schnellen Frieden. Daraufhin entsandten die Liberalen zwei Parlamentarier zu Nikolaus. Andere Parlamentarier malten unterdessen den Generälen die Situation in St. Petersburg schwarz.
Nikolaus entschied sich für eine Rückkehr nach Zarskoe Selo, weil seine Kinder an Masern erkrankt waren. Auf dem Weg dahin fand er sich aber isoliert im Niemandsland wieder. In Pskow angekommen, hatte der General Russkij die Aufgabe, den Zaren unter Druck zu setzen. Nikolaus beugte sich grundsätzlich dem Druck und dankte ab, zuerst zugunsten seines bluterkranken Sohnes, dann seines Bruders Michail.
Eine Abdankung war aber in der russischen Autokratie gar nicht vorgesehen. Damit begann die eigentliche Dynamik des Geschehens. Der Arbeiter- und Soldatenrat sah sich von den Liberalen hereingelegt. Diese empfingen den neuen Zaren, der aber abdankte, als er erfuhr, dass die Arbeiter und Soldaten ihn niemals akzeptieren würden. Allen wurde jetzt klar, dass mit der Abdankung des Zaren kein öffentliches Amt mehr legitimiert war. Daher bezeichnete sich die Regierung auch als provisorische. Die Exekutive hatte somit komplett abgedankt. Es gab nichts mehr, auf das man sich berufen konnte. Das nutzten nun zwei Gruppen. Zum einen die Generale. Sie wandelten sich zu Warlords, die kleinere, unter ihrem Befehl stehende Gebiete beherrschten. Zum anderen Lenin: Sein entscheidender Vorteil war, dass er von außen kam und die Dinge aus der Vogelperspektive verfolgt hatte. Er wusste, welche Fehler zuvor passiert waren. Nun trieb er einen Keil hinein: Die Macht lag auf der Straße. Sie gehörte demjenigen, der gewinnt. Die große Auseinandersetzung des Jahres 1917 fand somit nicht zwischen Lenin und den Liberalen, sondern zwischen Lenin und General Kornilow statt.
Deutlich werde auf diese Weise: Der Verlauf hat etwas mit Situationen zu tun. Oder mit Erving Groffman: Es geht um (Menschen formende) Situationen und ihre Menschen, nicht um Menschen und Situationen. Daher sei eine kleinteilige Ursachenforschung vonnöten, um historische Situationen angemessen zu verstehen.
In der anschließenden Frage- und Diskussionsrunde wurde auch eine Frage nach den Judenpogromen in Russland gestellt. Für Baberowski gehören sie in einen größeren Zusammenhang, der auch Armenier, Baltendeutsche sowie die Nomadenaufstände in Kasachstan, bei denen Hunderttausende von Menschen ums Leben kamen bzw. nach China flohen, umfasste. 1915 kamen die Imperien auf die Idee, ethnische Minoritäten jenseits ihrer Grenzen zu instrumentalisieren, so etwa versuchten die Russen, die Armenier im Osmanischen Reich für sich nutzbar zu machen. Die Juden galten nun in Russland als Verräter, weil sie (allein über die jiddische Sprache) als deutsch-affin galten und die Juden der besetzten österreichischen Gebiete sogar emanzipiert waren. So kam es zur Deportation von Juden, die österreichische Staatsbürger waren. Mit Antisemitismus, der ein Intellektuellenphänomen war, hätten diese Pogrome daher gar nicht viel zu tun. Die Bauern hätten von je her gewusst, dass sie Juden ausplündern konnten. Das war das klassische Muster des Pogroms. Die Verfolgungen im Rahmen des Weltkrieges seien dagegen von staatlichen Hoheitsträgern veranlasst worden. Es kam sogar zur Deportation jüdischer Soldaten aus den Einheiten. Demgegenüber bestand die Stärke des Zarenreichs eigentlich in seiner Vielfalt und Improvisationskraft, eben weil es gar keine Nation sein wollte. Juden waren dort insofern auch nie als Minderheit wahrgenommen worden.

Nach der Mittagspause konnte der Vorsitzende in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Kuratoriums der Henning von Burgsdorff Stiftung zur Förderung des Geschichtsunterrichts die Preisträger des Jahrespreises 2024 ehren. Aus sechs hochwertigen Bewerbungen hatte die Jury zwei Preisträger ermittelt, die beide einen Jahrespreis in Höhe von 500 € erhielten. Dr. Markus Drüding und Uwe Roeder (Altes Gymnasium Oldenburg) wurden für ihr Projekt Bildungswelten – Unsere Schule hat Geschichte ausgezeichnet. Das 450-jährige Schuljubiläum hatten sie zum Anlass genommen, eine Reihe von Projekten rund um die Schulgeschichte zu initiieren und diese einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Neben einer Posterausstellung und einer voluminösen, gehaltvollen Festschrift stand dabei die kritische Kommentierung eines Gefallenendenkmals im Schulgebäude im Zentrum. Biographien Ehemaliger wurden rekonstruiert und die Schwierigkeiten eines angemessenen Gedenkens problematisiert.
Ähnlich vielgestaltig war das zweite ausgezeichnete Projekt. Mit einem regionalgeschichtlichen Projekt überzeugten Elias Hoffmann und Frank Scheele vom Evangelischen Gymnasium Nordhorn die Jury. Sie erforschten die Geschichte der NINO-AG, eines großen Textilunternehmens, das bis 1996 ein wichtiger Arbeitgeber in Nordhorn war. Auf dem ehemaligen Betriebsgelände befindet sich heute das Schulgebäude. Die einzelnen Arbeitsgruppen führten Zeitzeugeninterviews, rekonstruierten das Betriebsgelände im 3D-Druck und gestalteten den Klukkert-Hafen, den ehemaligen Wasserzugang des Unternehmens, für eine öffentliche Wiedernutzung landschaftlich um.

Der abschließende Workshop widmete sich dem Thema Künstliche Intelligenz. Ziel war es weniger, in der hochvolatilen Entwicklung Lösungen für den Umgang mit KI im Unterricht zu sammeln, als zunächst ein Gesprächsforum anzubieten, um zukünftige Verbandsaktivitäten vorzubereiten. Andreas Haensch (Gymnasium Wesermünde) stellte seine Erfahrungen mit Künstlicher Intelligenz vor: Am Beispiel einer Rede Hermann Onckens zum Weimarer Verfassungstag ließ sich die Begrenztheit der KI-Lösungen ebenso gut aufzeigen wie an einem fiktiven, von KI produzierten Dialog zweier Frauen vor einem Schaufenster am Tag der Währungsreform. Deutlich wurde eine große Spannbreite von Eindrücken, die über Verunsicherung, über die Hoffnung auf konstruktiven Umgang bis zum entschiedenen Widerstand gegen die neue Technologie reichten.

Johannes Heinßen

 

Programm:

9.15-9.45 Uhr
Ankunft, Kaffee

9.45-10.00 Uhr
Begrüßung

10.00–11.15 Uhr
Professor Dr. Alan Kramer (Dublin/Hamburg),
Forschungen zum Ersten Weltkrieg. Die letzten 30 Jahre
(neues Semesterthema 13.1)

11.30–12.45 Uhr
Professor Dr. Jörg Baberowski (Berlin)
Die russischen Revolutionen 1917
(Semesterthema 12.1)

12.45–14.00 Uhr
Mittagspause

14.00 Uhr–14.30 Uhr
Verleihung des Jahrespreises 2024 der Henning von Burgsdorff Stiftung zur Förderung des Geschichtsunterrichts

14.30-15.30 Uhr:
Workshop: KI im Geschichtsunterricht

15.30-16.30 Uhr:
Ordentliche Mitgliederversammlung 2024 des NGLV