2019 sah sich der NGLV veranlasst, eine Stellungnahme zu den Aufgaben des Zentralabiturs abzugeben. Konkret ging es dabei nur um den Aufgabenvorschlag EA I (Luther-Rezeption im Film), den wir für nicht geeignet halten. Dies ist der Text unserer Stellungnahme.
Stellungnahme zu den Aufgabenstellungen des Zentralabiturs 2019
im Fach Geschichte
Drei der vier Aufgabenvorschläge (EA II, GA I und II) des diesjährigen Haupttermins zeichnen sich durch Kontinuität der Aufgabenkultur, fachliche Solidität, fachlichen Anspruch und fachdidaktische Berechenbarkeit aus. Sie fordern von den Prüflingen fundierte Fachkenntnisse und den Erwerb der fachspezifischen prozessbezogenen Kompetenzen. Abgesehen von kleineren Ungenauigkeiten im Erwartungshorizont, die von den Lehrkräften, die die Themen unterrichtet haben, problemlos stillschweigend korrigiert werden konnten, halten wir diese Aufgabenvorschläge durchweg für geeignet und sinnvoll.
Äußerst problematisch in mehrfacher Hinsicht erscheint uns hingegen Vorschlag EA I (Luther-Rezeption im Film). Unsere Bedenken möchten wir im Folgenden ausführlich erläutern. Sie betreffen nicht die formal-rechtliche Dimension, auch nicht die kommunikative Transparenz bei der Vorbereitung dieser Art von Aufgabenstellung, die in den Netzwerkfortbildungen in absolut hinreichender Weise erfolgte, sondern ausschließlich die inhaltliche Gestalt, vor allem die Materialauswahl sowie ihre didaktischen, aber auch bildungspolitischen Implikationen.
Seit Einführung des kompetenzorientierten Kerncurriculums für die gymnasiale Oberstufe nimmt die Geschichts- und Erinnerungskultur als Thema des vierten Semesters einen prominenten Ort im Lehrplan ein. Niedersachsen war darin bundesweit ein Vorreiter. Inzwischen haben auch andere Bundesländer den Nutzen dieser anwendungsbezogenen Art, historische Bildung im Geschichtsunterricht zu verstehen und auszurichten, erkannt und sind dem niedersächsischen Vorbild gefolgt. Mit den Wahlmodulen „Nationale Gedenk- und Feiertage in verschiedenen Ländern“ sowie „Mythen“ wurden in den bisherigen Abiturjahrgängen Themen behandelt, die das Kernmodul stark in denjenigen Bereich der Geschichtskultur rückten, der Gegenstand staatlichen Interesses, gesellschaftlicher Verhandlungs- und Aushandlungsprozesse, kurz: öffentlicher Diskurse war, ist und sein wird. In den Abiturjahrgängen, in denen Aufgaben zu diesen Wahlmodulen entstanden sind, sind gute, vollauf geeignete Aufgabenstellungen entstanden.
Mit dem Wahlmodul „Geschichte im Film und in den Neuen Medien“ wird nunmehr der Individualisierung der Erinnerung sowie den individuellen Aspekten einer Teilhabe an der Geschichtskultur Rechnung getragen. Die Frage des öffentlichen Interesses, ja der politischen Implikationen von Erinnerungskultur tritt demgegenüber deutlich in den Hintergrund. Diese Entscheidung ist angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen nachvollziehbar, normativ indes diskutabel, weil sie die Prüflinge eben nicht auf Fragen hinführt, die im Interesse des Gemeinwesens liegen bzw. auf eine Verantwortungsübernahme im intergenerationellen Zusammenhang abzielen, sondern ausschließlich die individuelle Auseinandersetzung mit Geschichte in den Vordergrund rückt, über deren Gestalt und Intensität ohnehin wenige Erkenntnisse vorliegen. All das mag didaktisch noch vertretbar sein. Die konkrete Aufgabenstellung nun unterläuft die Bildungsziele des Faches Geschichte indes in nachgerade dramatischer Weise.
Verbindlicher Inhalt des Abiturjahrgangs 2019 war der Luther-Film von Eric Till aus dem Jahr 2003. An seiner klischeehaften Darstellung der Reformation im Allgemeinen wie Luthers im Besonderen übten die Prüflinge die Dekonstruktion filmischer Darstellungen historischer Inhalte. Von hier aus wurde die Gegenüberstellung mit der eigenen bzw. der wissenschaftlichen Rekonstruktion vorgenommen und die triviale, tendenziöse, weil interessengeleitete Rekonstruktion des Reformationszeitalters einer Dekonstruktion unterzogen. Somit war der verbindliche Lutherfilm Ort eines exemplarischen Lernens, das darauf abzielte, der historischen Rekonstruktion der Inhalte die Dekonstruktion komplexer Darstellungsformen folgen zu lassen, so wie dies der Aufbau des Kerncurriculums Sek II vorsieht. Auf diese Materialgattung war in den vorbereitenden Fortbildungen hinreichend hingewiesen worden, sodass Lehrkräfte und Lerngruppen auf die Eventualität, dass ein solches Material vorliegen könnte, vorbereitet waren. Dennoch scheinen Zweifel hinsichtlich der Eignung für die Abiturprüfung angebracht. Das Material des Aufgabenvorschlages EA I besteht aus einer kurzen Rezension sowie aus einem Filmprotokoll mit eingefügten Standbildern. M 2 stammt aus der Pro Sieben/SAT 1-Produktion „Die Ketzerbraut“, einem trivialen, zutiefst unhistorischen Drehbuch. Die Konstruktion von Geschichte ist hier grob verfälscht, ja sie dient nur der Projektion einer trivialen Allerweltshandlung.
Offenbar wurde in der Materialauswahl davon ausgegangen, dass historische Spielfilme im Fernsehen das Geschichtsbewusstsein der Prüflinge prägen, ja dass triviale TV-Produktionen, unreflektiert rezipiert, falsche Vorstellungen des historischen Gegenstandes verbreiten. Dies dürfte sich empirisch schwerlich erhärten lassen. Die „Ketzerbraut“ brachte es auf eine Einschaltquote von knapp 9%. Kaum einer der Prüflinge kannte den Film. Mehr noch: Die völlig aus der Luft gegriffene Handlung der „Ketzerbraut“ stellte eine Fremdheitserfahrung für die Prüflinge dar, die sie angesichts ihrer Absurdität verunsicherte, weil sie aus dem Unterricht komplexere Materialien und damit verbundene anspruchsvollere Fragestellungen kannten. Wenn also die lebensweltliche und das Geschichtsbewusstsein prägende Relevanz historischer Spielfilme im Privatfernsehen gewiss in Zweifel gezogen werden kann, so wäre darüber hinaus die Frage zu diskutieren, inwiefern das gewählte Material angesichts der Trivialität und Plakativität des Unsinns eine hinreichende Komplexität, ja Dignität besitzt, um Gegenstand einer Abiturprüfung zu werden. Die abzuprüfenden Kompetenzen könnten an anderen Gegenständen trennschärfer und eingehender überprüft werden.
Die als Material 1 vorgelegte Rezension hat im Aufgabendesign im Wesentlichen die Funktion eines Infoblocks, der die durch Material 2 nur unzulänglich geleistete Orientierung über die Filmhandlung liefern sollte. Die Rezension beinhaltet in ihrem Tenor indes bereits das Ergebnis, das in Aufgabe 2 dann aufwändig erarbeitet werden soll. Material 1 enthält insofern wesentliche Aspekte der Lösung von Aufgabe 2.
Material 2 überbietet die im Unterricht dekonstruierte Tendenz und Banalität des Till-Films durch historischen Blödsinn, dessen Dekonstruktion kaum noch lohnend erscheint. Die Filmhandlung ist in ihrem Authentizitätsgrad so haarsträubend, dass den Prüflingen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Frage, ja an der Korrektheit ihrer inhaltlichen Vorbereitung kommen konnten – zu offensichtlich ist die völlige Faktenferne der präsentierten Ausschnitte, zu trivial ist aber auch der Nachweis des kommerziellen Interesses bei der Filmproduktion. Mit der Hinzunahme eines weiteren Spielfilms wird insofern eine verzerrte Darstellung durch eine noch viel schlechtere kontrastiert. Wenn diese in Aufgabe 3 sogar noch einem immanenten Vergleich unterzogen werden soll, entfernt sich das Erkenntnisinteresse von den fachlichen Grundlagen. Weder die Darstellung der Reformation in „Die Ketzerbraut“ noch in „Luther“ besitzt für sich genommen einen Bildungswert. Daher leistet auch ihr Vergleich nichts für die historische Bildung. Zwar zielt der Erwartungshorizont auf die Anwendung der Realitätstypen nach Korte ab; darauf haben aber nur wenige Prüflinge zurückgegriffen. Und selbst Referenten blieb verborgen, dass auch in Aufgabe 3 „die Reformation“ zentraler Bezugspunkt des Vergleichs sein sollte. Das spiegelt der Erwartungshorizont, in dem die Kategorien der Filmanalyse dominieren, auch nicht wider.
Auf der letztjährigen Netzwerktagung, auf der Fortbildungen zum Wahlmodul „Geschichte im Film und in den Neuen Medien“ vorbereitet wurden, herrschte Einigkeit darüber, dass auch das Medium Film Anlass zu einem fundierten Geschichtsunterricht geben sollte. Die Fragerichtung, so lautete der Konsens, sollte also nicht auf eine völlig vordergründige Sondierung der Umstände der Filmproduktion und -rezeption im Rahmen einer allgemeinen Medienbildung abzielen, sondern sie sollte die filmischen Umsetzungen erden und zu den Quellen bzw. zur wissenschaftlichen Narration zurückführen. Denkbar wäre gewesen, die Behauptungen (einer Szene) des Till-Filmes mit einer historischen Quelle zu konfrontieren und so auf die Ebene der historischen Forschung bzw. Rekonstruktion zurückzuführen. Die entgegengesetzte Richtung schlägt der Aufgabenvorschlag EA I 2019 ein. Zwar sieht Aufgabe 2 eine Historisierung vor, die auch mit 30% gewichtet wird. Faktisch kann man in diesem Aufgabenvorschlag insgesamt jedoch mindestens eine befriedigende Note erzielen, wenn man keinerlei historisches Wissen über die Reformation besitzt, sondern nur Kategorien der Filmanalyse kennt und etwas über die Bedeutung des Films in der Geschichtskultur weiß. Damit entfremdet sich dieser Aufgabenvorschlag vom Kerngeschäft des Geschichtsunterrichts. Er leistet aber auch nichts für die kritische Medienbildung, da die hier geforderte Form der Auseinandersetzung eben nicht geerdet ist.
Dazu trägt übrigens auch schon Aufgabe 2 bei, obwohl sie vordergründig eine erläuternde historische Narration verlangt. Das Spektrum der aufzugreifenden Stichworte und zu widerlegenden Elemente ist so umfänglich, dass die SuS hier zumeist Kommentare zu den vier Sequenzen, aber keine vollgültigen, logisch komplex aufgegliederten Narrationen primär genetisch-chronologischen Typs verfasst haben, wie dies eine traditionelle Erläuterungsaufgabe, die auf eine Vorgeschichte abzielt, erfordert hätte. Die Qualität der Schülerleistungen blieb daher aufgrund der Fülle an Stichworten in der Regel hinter den üblichen Erläuterungsaufgaben zurück und ging sehr in die Breite. Für die Lehrkräfte gestaltete sich die Bewertung der Leistungen deshalb schwierig.
Die Malaise setzt sich in Aufgabe 4 fort. Sie ist nur pro forma dem AFB III zuzuordnen. Faktisch ist diese Frage mit Sicherheit bereits im Unterricht diskutiert worden. Die hier geforderten Ergebnisse sind insofern leicht rein reproduktiv zu erarbeiten. Das Einbinden von Materialbezügen bzw. der Rückgriff auf die Ergebnisse der vorhergegangenen Aufgaben stellt ebenfalls keine wesentliche Leistung im Rahmen des AFB III dar; ihr Fehlen würde lediglich zu einer Abwertung der Leistung führen. Daher konnte die Aufgabe einerseits aus bloßem, durch den Unterricht nicht vorgebildeten Menschenverstand, andererseits aus dem bloßen Gedächtnis heraus erfolgreich bearbeitet werden.
Insgesamt markiert daher die Aufgabe EA I einen jähen, erheblichen Niveauverfall im niedersächsischen Geschichtsabitur. Das Design der Aufgabe weckt Assoziationen an das häufig zitierte nordrhein-westfälische Biologieabitur: Aufgeweckte Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe, die Tills Lutherfilm kennen, wären in dieser Aufgabe nicht gescheitert, ja sie hätten allein aufgrund der Kenntnis des Films mutmaßlich eine befriedigende Leistung selbst in Aufgabe 2 erzielen können. Einen Film zu kennen ist aber keine hinreichende Qualifikation für die allgemeine Hochschulreife. Dass dies hier der Fall war, kann Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Faches haben. Sofern die Aufgabenkultur in dieser Weise fortgeschrieben würde, würde Geschichte in der Außenwahrnehmung wieder zu einem „Laberfach“. Das darf nicht passieren!
Wir weisen ferner auf die länderübergreifende Wirkung hin: Mit solchen Aufgabenstellungen bewegt sich Niedersachsen eben nicht mehr an der Spitze des fachdidaktischen Fortschritts in seiner unterrichts- und prüfungspraktischen Umsetzung. Diese Aufgabenstellung gibt das Fach und seine Anliegen der Lächerlichkeit preis und schadet dem Ruf des niedersächsischen Geschichtsabiturs im Besonderen und der niedersächsischen Abiturprüfung im Allgemeinen.
Es bleibt zu hoffen, dass die Geltung des überarbeiteten Kerncurriculums für die gymnasiale Oberstufe, das die Konkretion der verbindlichen Inhalte erhöht hat, die Kommission nachhaltig in den Stand versetzen wird, zu den etablierten und akzeptierten Tugenden guten Geschichtsunterrichts und ihm entsprechenden Aufgabenstellungen zurückzukehren.
Der Niedersächsische Geschichtslehrerverband plädiert bei aller notwendigen Berechenbarkeit und Transparenz der Aufgabenstellungen für fachliche Solidität. Er rät dazu, die eingehende Quelleninterpretation als Proprium des Geschichtsunterrichts wieder stärker in den Aufgaben zur Geltung zu bringen. Dies sollte mit der Einführung des neuen Kerncurriculums für die gymnasiale Oberstufe wieder möglich sein.
Eine PDF-Fassung des Textes finden Sie HIER.