Zur zentralen Herbsttagung des Niedersächsischen Geschichtslehrerverbandes im Kulturzentrum Pavillon fanden sich am 26.10.2017 rund 90 Kolleginnen und Kollegen ein. Sie erwartete das übliche Programm aus zwei Vormittagsvorträgen und nachmittäglichen Workshops.
Die Besetzung des ersten Vortrags mit Professor Dr. Egon Flaig war bereits im Vorstand nicht unumstritten gewesen. Flaig, emeritierter Rostocker Ordinarius für Alte Geschichte, hat in den vergangenen Jahren überwiegend mit kulturkritischen Beiträgen zur politischen Publizistik von sich reden gemacht, die höchst kontrovers aufgenommen wurden und ihm vielfach den Ruf eingetragen haben, intellektueller Stichwortgeber der neuen Rechten zu sein. Daher barg sein Vortrag über Geschichts- und Erinnerungskultur zwischen historischer Wahrheit und Gedächtnispolitik die Chance, dieses im politisch-didaktischen Mainstream noch wenig rezipierte Denken aus erster Hand kennen zu lernen. Für den Verband war damit indes das Risiko verbunden, dass die Wahl des Referenten womöglich mit der Verbandslinie identifiziert werden könnte. Das war jedoch keineswegs die Absicht. Der Vortrag wurde vom Auditorium aufmerksam zur Kenntnis genommen und höflich, aber sehr streitbar diskutiert.
Flaigs Überlegungen nahmen ihren Ausgangspunkt beim kaum bestrittenen Gegensatz von histoire und mémoire. Während die mémoire, das kollektive Gedächtnis, zum Ziel habe, Gruppen zu einen, indem sie Orientierung stifte und Normen setze, womit die Kultur eine gewisse Inflexibilität, d.h.: eine stabile Ordnung gewinne, sei die histoire, die Geschichtswissenschaft, einzig der Wahrheit verpflichtet. Mit den Beispielen, die Flaig für kulturelle, durch die mémoire festgelegte Werte anführte, stieß er sogleich ins Zentrum seines Anliegens vor: Die politische Gleichheit der Geschlechter werde durch das fehlende Burkaverbot unterlaufen; dies wiederum sei Folge des Umstandes, dass Europa im Begriff sei, seine historisch gewachsenen Werte zu vergessen. Die kulturelle Amnesie bewirke in diesem Fall unweigerlich einen Freiheitsverlust. Die Geschichtswissenschaft könne nachweisen, dass es in der Geschichte zwei fundamentale Gesetze gebe: Alles sei verlierbar und nichts sei in der Geschichte umsonst. Mythen thematisierten Letzteres, indem sie Opfererzählungen enthielten. Schon Immanuel Kant habe daher Dankbarkeit gegenüber den Generationen der Vorfahren für ihre Errungenschaften angemahnt. Hinter allen Werten stehe Geschichte. Dies verdeutlichte er am Beispiel der Abschaffung der Sklaverei: Es sei die angelsächsische Anti-Sklaverei-Bewegung des 19. Jahrhunderts gewesen, die ihr in Afrika ein Ende bereitet habe. Das Menschenrecht des Sklavereiverbotes werde unweigerlich seine Geltung verlieren, wenn man nicht mehr wisse, was Sklaverei sei. Wertbezüge müssten daher an fixe Haltepunkte angebunden sein.
Den grundsätzlichen Unterschied von mémoire und histoire habe Alfred Heuß bereits 1959 auf den Punkt gebracht, wenn er die Geschichtswissenschaft den „Feind der Erinnerung“ nannte. So hätten es auch Jan Assmann und Yosef Yerushalmi beschrieben: Das kollektive Gedächtnis sei ein lebensdienliches Partikulargedächtnis, das ein Narrativ erfordere; seine Haltpunkte seien identitätskonstitutiv. All dies leiste die Geschichtswissenschaft nicht. Ihr wohne der Zwang zur Bewahrheitung inne; ihr universeller Anspruch müsse sich gegen das kollektive Gedächtnis stellen, müsse Mythen widersprechen und selbst die eigenen Mythen destruieren. Schon 1874 habe Friedrich Nietzsche in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung daher die Historie als Wissenschaft abgelehnt.
Flaigs Hauptthese lautete nun, dass die Gedächtnispolitik der Wissenschaft vermehrt vorzuschreiben versuche, was Wahrheit sei. Dies suchte er am „Historikerstreit“ von 1986 zu zeigen. Ernst Noltes Vergleich der beiden totalitären Herrschaftsformen Europas sei aus wissenschaftlicher Sicht legitim gewesen. Gegen Noltes maßvolle, wissenschaftliche Argumentation hätten seine Gegner einen Relativierungsvorwurf erhoben. Aber Jürgen Habermas und Hans-Ulrich Wehler hätten anstelle einer wissenschaftlichen Diskussion einen gedächtnispolitischen Kampf gegen Nolte geführt. Habermas habe die Auffassung vertreten, dass die offizielle mémoire der Wissenschaft Grenzen setzen dürfe.
Diese Linie zog Flaig nun weiter, indem er Merkmale einer antiwestlichen Erinnerungskultur der politischen Linken skizzierte, die Demokratie, Menschenrechte und die Wissenschaft delegitimiere. In Deutschland sei ihr dies leicht gefallen, nachdem die Wissenschaft den „Kampf“ von 1986/87 verloren habe. Der Antikolonialismus der politischen Linken beschränke sein Feindbild auf den westlichen Kolonialismus; alle Übel der Welt hätten mit dem westlichen Imperialismus begonnen, das Ziel der Neuen Linken sei daher der Sieg über den Westen.
Flaig warf dieser politischen Richtung nun zwei „Leugnungen“ vor: Der Hautfarbenrassismus sei nicht im Westen entstanden, sondern in der arabischen Welt, in der der „braune“ Mensch als sowohl den „weißen“ Menschen des Nordens als auch den „schwarzen“ Menschen Afrikas als überlegen angesehen worden sei. In der gesamten europäischen Tradition bis in die Neuzeit hinein suche man ihn hingegen vergeblich. Erste Spuren fänden sich hier frühestens im 17. Jahrhundert. Heute gelte Rassismus dagegen verbreitet als westliche Erfindung. Zweitens seien alle Hochkulturen der Geschichte sklavistisch gewesen. Die islamische Welt des Mittelalters sei die größte sklavistische Gesellschaft gewesen. Sie sei erst durch britische und französische Intervention im 19. Jahrhundert zerschlagen worden, wodurch Afrika neue Wege eröffnet worden seien. Der Islam habe sich jedoch niemals von der Sklaverei distanziert. Die westeuropäische Kultur habe als einzige den Antisklavismus hervorgebracht, von dem sich in anderen Kulturen keine Spur finde. Diese beiden historischen Tatsachen würden von der Neuen Linken geleugnet; stattdessen spreche sie den Westen für alles schuldig. Bereits Nietzsche habe erkannt: „Niemand lügt so viel als der Entrüstete.“ Flaig sah aus dieser besonderen, historisch widerlegbaren Konstellation der mémoire kulturell induzierte Schmerzen bei den entsprechenden Opfergruppen hervorgehen. Sie führten bei ihnen zum Anspruch darauf, ganze Epochen und ganze Kulturen zu dämonisieren, zum Anspruch auf Betroffenheit, lautstarke Entrüstung und Bezichtigung, zum Anspruch auf finanzielle und symbolische Entschädigung, zum Anspruch auf Respekt für die eigene mémoire, die indes eine fake history sei, sowie schließlich zum Anspruch auf Entwertung der wissenschaftlichen Wahrheit, falls sie der eigenen mémoire widerspricht. Für die Zurückdrängung der histoire durch die mémoire führte er dann weitere Beispiele aus Frankreich an, wo das Verschweigen des arabischen Sklavenhandels mit der schwarzafrikanischen Bevölkerung mit Rücksicht auf die arabischen Jugendlichen politisch verordnet worden sei. Die spätere französische Justizministerin Christiane Taubira habe als Nachfahrin afrikanischer Sklaven 2006 das Recht auf Begnadigung für sich in Anspruch genommen. Indem sie mit zweierlei Maß gemessen habe, habe sie bewusst die Desintegration von Staatsbürgern in Kauf genommen und den Weg einer „Therapie der Lüge“ eingeschlagen.
Flaigs Vortrag endete in einem Plädoyer für die universalen Werte Europas, wie sie von der griechischen Antike begründet worden seien: Die Wissenschaft sei eine griechische Erfindung. Die Griechen hätten als erste republikanische Verfassungen ohne göttliche Gründung und Demokratie entwickelt. Die Menschenrechte seien aus spätantiken Ansätzen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit erfunden worden. Die europäische Kultur praktiziere als einzige eine universalistische Selbstkritik, die sich im Hellenismus und in der Aufklärung herausgebildet habe. Aus der christlichen Religion habe sich ferner der Gedanke eines universalen, d.h. nicht partikular beschränkten Schuldzusammenhangs entwickelt. Und schließlich sei, den Griechen sei Dank, die europäische Kultur die einzige, die ein ,Allinteresse’ für Fremdes entwickelt habe.
Flaigs Gedankenführung, die er in seinen jüngsten Publikationen mehrfach ausführlich dargelegt hat, stießen im Auditorium auf ein höchst geteiltes Echo. Fand seine Forderung nach Rückbesinnung auf die historisch gewachsene europäische Identität unter den anwesenden Historikerinnen und Historikern naturgemäß prinzipielle Zustimmung, so wurde seine Beweisführung dennoch an entscheidenden Stellen in Zweifel gezogen. So wurde eingewandt, dass der zentrale Einwand gegen Nolte der gewesen sei, dass er den Holocaust durch einen „kausalen Nexus“ mit dem Bolschewismus verbunden gesehen habe. Infrage gestellt wurde auch Flaigs historischer Wahrheitsbegriff, der verglichen mit dem konstruktivistischen Wahrheitsbegriff, wie er heute in der Geschichtsdidaktik dominiert, geradezu versteinert und apodiktisch daherkam. Und schließlich blieb beim Publikum die Frage offen, ob nicht Flaigs investigativer Furor in dekonstruierender Absicht genau das leiste, was er so nachdrücklich auszuschließen vorgebe: der Gedächtnispolitik der politischen Rechten durch selektive Kombinatorik eine große Erzählung zu geben.
War es also richtig, Egon Flaig zur Zentraltagung einzuladen? Eine (nicht repräsentative) Umfrage unter den Teilnehmern ergab ein differenziertes, weit auseinander gehendes Meinungsbild. Eines indes muss hier festgehalten werden: Der Niedersächsische Geschichtslehrerverband rückt durch eine solche Einladung nicht nach rechts. Er war, ist und bleibt überparteilich, verpflichtet einzig dem Ziel, sich schulformübergreifend für die Ziele der zeitgemäßen – und das heißt vor allem: der historischen Bildung, deren Rahmen der § 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes absteckt, einzusetzen. Und seit die kritische Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur dazugehört, muss es auch möglich sein, einen ihrer Exponenten als Referenten einzuladen und auf diese Weise Gedanken, die zumindest von der politischen Rechten funktionalisiert werden, zur kritischen Sichtung freizugeben. Im Übrigen: Ob wir uns wohl denselben Vorwurf (in die andere Richtung) zugezogen hätten, wenn wir eine marxistische Historikerin eingeladen hätten? Vielleicht ist hier auch Gelegenheit zur kritischen Überprüfung der eigenen Position und Vorurteile im bipolaren Feld von histoire und mémoire gegeben.
Tagungsdramaturgisch war der folgende Vortrag des Essener Geschichtsdidaktikers Professor Dr. Markus Bernhardt über Bildanalyse im Fach Geschichte in der Mittelstufe durchaus im Nebeneffekt auch dazu gedacht, womöglich erhitzte Gemüter wieder ein wenig abzukühlen. Bernhardt entwickelte darin seine Kritik an den in der Praxis dominierenden Verfahren der Bildinterpretation von Panofsky/Sauer und Pandel. Die insbesondere von letzterem geforderte, umfassende Interpretation sei blauäugig, denn sie scheitere insbesondere bei jüngeren Schülerinnen und Schülerin daran, dass sie bereits in der Wahrnehmung des Bildes „zu früh fertig“ seien: Denn der ungeschulte Umgang mit Bildquellen sei davon gekennzeichnet, dass sie Bildelemente vorschnell harmonisierten, d.h. die ihnen verfügbaren Deutungsmuster integrierten. Sie sähen daher Bekanntes, wo es eigentlich Befremden festzustellen geben müsste. Bernhardt plädierte entgegen diesem „ökologischen“ Bildverstehen für ein „indikatorisches“ Bildverstehen, das die Lernenden dazu anrege, sich bereits auf der Beschreibungsebene intensiver mit der Bildquelle auseinanderzusetzen, um deren Alterität zu erkennen und daraus Fragen für die weitere Analyse abzuleiten. Hier empfahl er handlungsorientierte Verfahren wie Sprechblasen oder Satzergänzungen („Ich frage mich, …“, „Ich hoffe, …“, „Ich befürchte, …“), um die Aufmerksamkeit aufrecht und die Intensität der Bildbetrachtung zu steigern. Im zweiten Schritt müssten dann die wesentlichen Informationen (Bedeutung von Symbolen, historischer Kontext, d.h. die Kenntnis der vergangenen Situation, …) zur Verfügung gestellt werden, um zu einer korrekten, aussagekräftigen Bildinterpretation zu gelangen.
Abschließend fasste Bernhardt seine Quintessenz in ein einprägsames Bild: Während Pandel die Schüler auf offenem Meer mit den verschiedenen Schiffsteilen und einer Bauanleitung zum Zusammenbau des Schiffes alleine lasse, sei es sein Anliegen, die Schüler auf einer Insel im offenen Meer mit Hilfe einer Lehrkraft und der Bauanleitung dazu zu führen, die Schiffsteile zusammensetzen zu können.
Bernhardts Gedanken wurden in einem der beiden nachmittäglichen Workshops näher erprobt. Dr. Hans-Joachim Müller (Delmenhorst) stellte dazu die gängigen Theorien der Bildanalyse näher vor und ließ die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Verfahren dann an der Buchmalerei „Sterbestunde“ aus dem Stundenbuch der Katharina von Kleve durchführen. Das Ergebnis der gemeinsamen Übung lautete, dass die erste Phase der Öffnung qualitativ deutlich verbesserte Ergebnisse erbringen könne, während die zweite Phase, in der häufig eine Vielzahl von Informationen (zumeist wohl in Textform) dargereicht werden müssten, leicht zu einer methodischen Erstarrung und einem konventionellen Unterrichtsverfahren führen könne.
Im Vorgriff auf das demnächst anstehende Semesterthema Begegnung mit Geschichte im Film und in den Neuen Medien (RT 4, WM 5, ab ZA 2019) wandte sich Britta Wehen (Oldenburg) in ihrem Workshop dem Thema „Zwischen Authentizität und Fiktion – De-Konstruktion von Geschichtsspielfilmen im Unterricht“ zu. Sie begann mit der Entfaltung einer Systematik der Filmanalyse und gelangte darüber zum Beispiel des für das Zentralabitur 2019 verbindlichen Luther-Films von 2003. Hierzu legte sie ein konkretes Unterrichtskonzept vor. Die Präsentation des Workshops finden Sie HIER.
Vor den nachmittäglichen Workshops zeichnete Dr. Martin Stupperich als Kuratoriumsvorsitzender der Henning von Burgsdorff Stiftung die beiden Preisträger des Jahrespreises 2017 aus. Es handelt sich zunächst um Heinz Hermann Steenken (Gymnasium Carolinum Osnabrück) für die Konzeption einer fächerübergreifenden Gedenkfeier zum 9. November ausgezeichnet, die unter anderem die vergessene Synagogenmusik der jüdischen Aufklärung in Erinnerung rief. Mit einem weiteren Preis wurden Dr. Katja Köhr, Dr. Annette Puckhaber und Ronny Wittig vom Gymnasium Buxtehude Süd für die langjährige und höchst erfolgreiche Umsetzung des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten inklusive Implementierung im Schulprogramm ausgezeichnet.
Im Anschluss an das Tagungsprogramm fand die jährliche Mitgliederversammlung des NGLV statt. Dabei wurde der bisherige Vorstand im Amt bestätigt. Lediglich im Amt der Schriftführerin gab es einen Wechsel. Auf Ulrike Friese, die nicht mehr in Niedersachsen tätig ist, folgt Dr. Christina Kakridi (Göttingen).
Johannes Heinßen