Die zentrale Herbsttagung des Niedersächsischen Geschichtslehrerverbandes fand am 6.11.2013 im gewohnten Ambiente des Historischen Museums Hannover statt. Mit rund 140 Teilnehmern war sie so gut besucht, dass anstelle des Tagungssaales das Foyer des Museums genutzt werden musste.
Fachlich stand die Tagung ganz im Zeichen neuerer Forschungen zur NS-Geschichte.
Neuere Forschungen zur NS-„Volksgemeinschaft“
Den Anfang des Fortbildungsprogramms machte Professor Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover), Sprecher des Forschungskollegs „Nationalsozialistische Volksgemeinschaft“. (PPP zum Vortrag)
Der Begriff „Volksgemeinschaft“ liege im Brennpunkt aktueller Debatten der Forschung. Auf zahlreichen Tagungen der letzten Jahre habe er im Zentrum gestanden. Dabei sei er durchaus umstritten. Schmiechen-Ackermann referierte zunächst drei zustimmende Positionen von Michael Wildt, Frank Bajohr und Andreas Wirsching. Dabei werde dem Begriff ein beträchtlicher heuristischer Wert zugeschrieben, der In- und Exklusion auf der Grundlage der Freisetzung sozialer Schubkräfte an die Stelle der Vorstellung grassierenden Zwangs gesetzt habe. Die alltägliche soziale Praxis werde zum Gegenstand, Konsens und Einverständnis der Bevölkerung würden betont, eine neue erfahrungsgeschichtliche Perspektive hervorgehoben. Ferner kulminiere in diesem Konzept eine Verheißungskultur in ihrer Dynamik, in der sich die Sehnsucht und das Streben nach Normalität ausdrückten. Auch Hitler habe schließlich seine Biographie als durchschnittliche inszeniert.
Gegner des Begriffs sähen in ihm nur ein modisches Schlagwort, das als Analyseinstrument mit Mängeln behaftet sei und den Kern des Nationalsozialismus verfehle. Sie verwiesen auf das Fortbestehen sozialer Ungleichheit, auf dem Umstand, dass der Begriff der NS-Propaganda selbst entstamme und die Forschung insofern der Selbststilisierung der Nationalsozialisten aufgesessen sei. „Volksgemeinschaft“ sei insofern ein Quellenbegriff und kein genuines Forschungskonzept. Der Begriff verfehle den Kern des NS-Regimes.
Diese Forschungskontroverse, führte er in Anlehnung an Norbert Frei aus, lasse sich auch generationell erklären. Die großen Sozialhistoriker früherer Jahrzehnte entstammten zu großen Teilen der Flakhelfergeneration. Sie hätten persönlich andere, negativere Erinnerungen an den NS gehabt und hätten sich daher dem Volksgemeinschafts-Konzept nicht geöffnet.
Dabei sei der Gemeinschaftsbegriff keineswegs NS-spezifisch gewesen, sondern verfüge über eine längere Begriffsgeschichte. Ferdinand Tönnies‘, gelegentlich zum soziologischen Klassiker erhobenes Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von 1887 habe erstmals die Opposition geöffnet, die in der Folgezeit zunächst inklusiv verstanden worden sei, bevor sie im Ersten Weltkrieg zunehmend im Sinne eines völkischen exklusiven Korporativismus als Abgrenzung gegen die Kulturen alliierten Kriegsgegner verwendet und aufgeladen worden sei. Die antiwestliche Perspektive sei auch in der Weimarer Republik weiter bedient worden, etwa von Max Scheler in seiner Aufsatzsammlung „Vom Umsturz der Werte“ (1919). Parteiübergreifend sei „Gemeinschaft“ als Konzept einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und Sehnsucht nachzuweisen.
Nur vordergründige Ähnlichkeit weise hiermit die Differenzierung von Max Weber auf. Dieser unterscheide wertneutral zwischen Zusammengehörigkeitsgefühl und Interesse als Motive der Vereinigung. Auch Helmuth Plessner äußerte sich in „Grenzen der Gemeinschaft“ kritisch zum Gemeinschaftsbegriff.
Die NSDAP habe den Begriff „Volksgemeinschaft“ seit 1931 instrumentell im Sinne der Selbstbeschreibung genutzt. Dabei sei er schillernd und plakativ geblieben. Seit 1933 sei er die zentrale Referenzgröße der Ideologie gewesen, zugleich aber auch auf Teildiskurse heruntergebrochen worden (z. B. Betriebs-, Siedlungs-, Lagergemeinschaft). Ideologisch wurde er 1936 von Max Hildebert Böhm als Zusammenspiel von Rechten und Pflichten fixiert.
Als Beispiel für Forschungsperspektiven, die sich aus dem „Volksgemeinschaftsbegriff ergäben, referierte Schmiechen-Ackermann über Elissa Mailänders Monographie „Gewalt im Dienstalltag: Aufseherinnen im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek“ (2009). In Österreich habe insofern ein Sonderfall vorgelegen, als das Jahr 1938 eine scharfe Zäsur bedeutet habe, da der Nationalsozialismus quasi über Nacht Einzug gehalten habe und gegenüber dem klerikalen Ständestaat als modern, ja als Befreiung empfunden worden sei.
Es schloss sich ein multikausales Modell für den Erfolg des Konzepts „Volksgemeinschaft“ an, d.h. für das „Mitmachen“ der Deutschen an, das der Referent in fünf Begriffen konzentrierte.
- Die ideologische Affinität. Der NS habe Strömungen in der Bevölkerung aufgegriffen, radikalisiert und instrumentalisiert. Es habe keiner Überredung bedurft, sondern es habe eine bewusste Integration stattgefunden.
- Der NS-Propaganda-Apparat. Die „Zauberformel ‚Volksgemeinschaft‘“ sei instrumentell zur Vereinnahmung eingesetzt worden.
- Die affektive Vereinnahmung. Sie sei durch Inszenierung und Gefühlsinhalte erreicht worden. Performative Akte wie Massenfeste seien Kennzeichen einer Emotionspolitik gewesen.
- Materielle Verbesserungen. Wohltaten für den durchschnittlichen Deutschen bildeten eine wirksame materielle Unterstützung und Verbesserung der Lebenssituation.
- Zukunftsverheißungen. Konsumverheißungen wie der Volkswagen und touristische Angebote (KdF) weckten Zukunftshoffnungen.
Ein konkretes Fallbeispiele zur Ikonographie der „Volksgemeinschaft“ schloss sich an. Im Hitlergruß sei die Einheit von Opfer und Täter hergestellt worden. Mit ihm habe sich die Bevölkerung freiwillig in das Ideal der „Volksgemeinschaft“ eingefügt.
Die NS-Forschung im Zeichen des Volksgemeinschaftskonzepts, so lautete das Fazit, sei eine kulturwissenschaftlich informierte Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit. Dass auch dieses Paradigma nur eine begrenzte analytische Kraft verfüge und irgendwann veralten werde, hielt er für wahrscheinlich Eine dauerhaft gültige Deutungsformel für den NS sei noch nicht gefunden. Die Grenzen machte er abschließend deutlich, indem er seine Ausführungen ausbalancierte und Terror, Gewalt und Exklusion als zuvor unterrepräsentierte Gegengewichte zur referierten Perspektive nannte.
Die Workshops des Nachmittags schlossen an diesen Vortrag an.
Christine Schoenmakers M.A. (Oldenburg), Kollegiatin des Forschungskollegs, referierte vor knapp 30 Zuhörern über Justiz und Volksgemeinschaft. Einleitend wies sie auf die erzieherische Funktion der Justiz bei der Durchsetzung des Volksgemeinschaftsgedankens hin. Urteilsbegründungen hätten häufig die Einstellung der Beklagten zur Volksgemeinschaft stark gewichtet. Die sogenannte „Volksschädlingsverordnung“ von 1939 habe den Kern des Kriegsstrafrechts ausgemacht und den Ausschluss der „Volksschädlinge“ aus der Volksgemeinschaft legitimiert. Dies wurde an einem Fallbeispiel aus Bremen illustriert, bei dem die zwanzigjährige Liselotte P. zum Tode verurteilt wurde, weil sie nach einem Fliegerangriff aus einem zerstörten Geschäft einen Mantel mitgenommen habe. Der für das – nicht mehr vollstreckte – Urteil verantwortliche Vorsitzende des Sondergerichts, Dr. Emil Warneken, leistete seinen Dienst zuverlässig bis kurz vor der Kapitulation und sah sich nach dem Krieg frei von Schuld. Unter seinem Vorsitz waren 49 Todesurteile verhängt worden – neben der im Vortrag erwähnten Liselotte P. übrigens auch gegen den polnischen Jugendlichen Walerjan Wróbel (hingerichtet 1942), der vielleicht durch den Film das „Heimweh des Walerjan Wróbel“ (1991) dem ein oder anderen bekannt sein dürfte.
In einer Gruppenarbeitsphase beschäftigten sich die Teilnehmer arbeitsteilig mit verschiedenen Quellen zur Rolle der Justiz im Nationalsozialismus, die anschließend exemplarisch vorgestellt und diskutiert wurden. In ihrem Fazit wies Schoenmakers darauf hin, dass sich in der gerichtlichen Praxis eine individuelle Aneignung des Volksgemeinschaftsgedankens feststellen lasse. Die Akteure selbst hätten das Geschehen aktiv bestimmt und seien keinesfalls bloß passiv äußeren Einflüssen ausgeliefert gewesen. Es habe einen gesellschaftlichen Konsens über den Ausschluss von „Gemeinschaftsfremden“ gegeben.
Professor Dr. Lorenz Peiffer (Hannover) widmete sich der Rolle des Sports im Nationalsozialismus. „Der Sport als Realisierung der NS-Volksgemeinschaft“ lautete der Titel seines Workshops, das den frühen, schon im März 1933 einsetzenden Ausschluss von Juden aus den diversen Sportverbänden und -vereinen im Reich zum Thema hatte. Auffällig war hier – wie in vielen Bereichen der gesellschaftlichen „Gleichschaltung“– dass nicht Druck durch die NSDAP zur Arisierung führte, sondern der von den Verbands- und Vereinsfunktionären vorauseilende Gehorsam. So vollzog sich im DFB ausgehend von der Stuttgarter Erklärung vom 9. April 1933 ein rapider Ausschluss der Juden, die entweder aus den Mitgliederlisten gestrichen oder aber in ‚blauen Briefen‘ zum Austritt aufgefordert wurden. Das führte dazu, dass alle Verbände ihre jüdischen Mitglieder ab 1933 nicht mehr schützten, obgleich dies möglich gewesen wäre. Auf Vereinsebene verdeutlicht der Ausnahmefall Eintracht Frankfurt, dass es wohl Freiräume in der NS-Diktatur gab, die allerdings nur zu selten genutzt wurden. Eintracht Frankfurt verhinderte bis 1935/36 den Ausschluss von jüdischen Mitgliedern aus dem Verein. Bemerkenswert war für Lorenz Peiffer ebenfalls, dass die Vereine über diesen Part der Vergangenheit lange Zeit den Mantel des Schweigens gelegt hatten. Erst in den letzten Jahren kommt initiiert durch Theo Zwanziger im Fußballbereich einiges in Bewegung. Ein zweiter Schwerpunkt des Workshops beschäftigte sich mit der Reaktion der ausgeschlossenen Juden. Sie organisierten sich schnell neu in jüdischen Sportvereinen und belebten so das jüdische Gemeindeleben enorm, bis nach dem 9. November 1938 die Geschichte des jüdischen Sports in Deutschland endete.
OStD Dr. Stefan Krolle (Achim) wandte sich dem Thema „Jugend zwischen Konformität und Widerstand“ zu. Krolle informierte anhand ausgewählter historischer Beispiele über den Widerstand Jugendlicher gegen das NS-Regime und plädierte dafür, diesem Thema im Geschichtsunterricht mehr Raum zu geben. Im Fokus seiner Ausführungen stand dabei das – durchaus verbreitete – latente Fortbestehen bündischer Traditionen in jugendlichen Subkulturen und deren Potential als Gegenentwurf zur „Hitlerjugend“.
Museumsmitarbeiter Stefan Tiedtke schließlich führte die Teilnehmer eines vierten Workshops durch die Teile der Dauerausstellung des Historischen Museums, die sich mit dem NS beschäftigten. Es schloss sich ein Rundgang durch die Sonderausstellung „Stadtbilder 1939-1960“ an. Besonderes Interesse weckte hier die Entstehung des Maschsees. Bereits vor 1933 geplant, wurde sie in den dreißiger Jahren realisiert und noch heute ranken sich zahlreiche Mythen darum.
Umfrage des NGLV zu Kerncurriculum und Zentralabitur 2013
Im zweiten Vortrag des Vormittags berichteten Vorstandsmitglieder über die Auswertungsergebnisse der Umfrage des NGLV zur Arbeit mit dem KC Sek II und dem Zentralabitur 2013. Hier waren die Fragebögen von 62 Fachgruppen eingegangen und bildeten eine valide Grundlage. Deutlich wurde, dass das Kerncurriculum mehrheitlich abgelehnt wird. Die Arbeit in den einzelnen Semestern hingegen wurde weit positiver beurteilt. Eine Ausnahme bildet jedoch das vierte Semester, das deutlich schlechtere Werte erhielt. Der allerorten bemerkte Fortschritt in der Aufgabenstellung des Zentralabiturs 2013, vor allem gegenüber den vielfach kritisierten Aufgaben des Vorjahres, konnte ebenfalls klar herausgearbeitet werden. Die Ergebnisse sind im Detail unter HIER abrufbar. Für die Landesschulbehörde nahmen die Fachberater StD Peter Heldt (Wolfenbüttel) und StD Achim Zeuch (Stade) kurz zu den Ergebnissen Stellung.
Verabschiedung von Dr. Martin Stupperich
Eine große Veränderung brachte die abschließende Mitgliederversammlung des NGLV. Nach elf Jahren legte Dr. Martin Stupperich das Amt des Vorsitzenden nieder. Der NGLV in der heutigen Gestalt, d.h. die Fülle der Angebote an seine Mitglieder und andere Fachkolleginnen und -kollegen ist im Wesentlichen sein Werk. Gemeinsam mit seiner Frau Amrei hat er sich die Interessenvertretung immer eine Herzenssache sein lassen und sie auf verschiedenen Ebenen, in Gestalt von Publikationen, der Vertretung des Landes- im Bundesverband, vor allem aber in der Organisation von Tagungen umgesetzt. Folgerichtig verlieh ihm die Mitgliederversammlung den Titel eines „Ehrenvorsitzenden“. Zum neuen Ersten Vorsitzenden wurde StD Dr. Johannes Heinßen (Stade) gewählt. Seine Stellvertreter sind StD Dr. Hans-Joachim Müller (Delmenhorst) und StR Dr. Axel Ehlers (Hannover). Zum neuen Schatzmeister wurde Heinrich Sperling (Stuhr) gewählt. Neue Regionalvertreter wurden Eberhard Borrmann (Lüneburg) und Dr. Johannes Etmanski (Grafschaft Bentheim). Die weiteren Mitglieder des erweiterten Landesvorstandes wurden im Amt bestätigt.